Andachten und Rundfunkbeiträge

17.9.2017 8.35 – 8.50 Uhr, Deutschlandfunk DLF

Auftanken!

Diakonische Orte als Kraftquelle

Halbfinale WM 2006, Deutschland gegen Italien, das Spiel hier in Dortmund. Auch bei uns in der Bahnhofsmission schauen wir das Spiel, zusammen mit Bahnkollegen und Gästen. In der Halbzeitpause kommt eine Frau in die Bahnhofsmission und erklärt, dass sie vor ihrem gewalttätigen Mann geflohen sei. Er würde Fußball schauen und sie sei aus dem Fenster geklettert. Sie habe nichts dabei und wüsste auch nicht wohin.

Sprecher:

Nun ist der Fußball zweitrangig. Unsere Frau Schmidt kümmert sich. Mit dem Frauenhaus wird telefoniert, es ist voll. Mit der Frauenübernachtungsstelle wird gesprochen, dort ist ein Bett frei, sie kann kommen. Die Stadt ist im Ausnahmezustand wegen des Halbfinales. Jetzt zu Fuß durch die Stadt – das geht nicht. Also wird beratschlagt, dass aus Spendenmitteln ein Taxi finanziert wird. Alleine hat unsere Klientin Angst und ist unsicher. Frau Schmidt fährt mit und begleitet sie. Kurz vor Ende des Spiels ist sie zurück! Da ist es nach halb 10 am Abend. Was wäre gewesen, wenn es eine solche Einrichtung wie die Bahnhofsmission mit ihren Öffnungszeiten nicht gäbe?

Autorin:

So erzählt Axel Rolfsmeier, einer der Mitarbeitenden. Wer öfter mal mit der Bahn unterwegs ist, kennt es – das Schild mit Kreuz und gelbem Streifen auf blauem Grund: Nächste Hilfe: Bahnhofsmission. Kennt die Engagierten mit den blauen Westen, die sich um solche Notfälle kümmern, die Ältere oder Menschen mit Behinderung zum Zug bringen oder abholen. Bahnhofsmissionen gibt es seit 1894. Der Initiator, Johannes Burkhard, wollte vor allem jungen Frauen Schutz geben, die damals in die Städte strömten, um zu arbeiten. Im Laufe der Zeit haben sich die gesellschaftlichen Herausforderungen gewandelt. Aber eins ist geblieben, sagt Rolfsmeier:

Sprecher:
Dass die Menschen dort Zeit haben und nicht nach Fachleistungsstunden mit Kostenträgern abrechnen müssen. Die Bahnhofsmission ist eine offene Anlaufstelle – offen für jeden. Sie ist da und zur Stelle „wenn das Leben entgleist“.

Autorin:
Und manchmal reicht eine Kleinigkeit: Kein Kleingeld für die Bahnhofstoilette? Gehen Sie doch einfach die Treppe hoch zur Bahnhofsmission, sagt mir die Frau am Kiosk. Da kriegen Sie sogar kostenlos einen Kaffee und können mal eben auftanken!

Orte zum Auftanken – in unserer mobilen Gesellschaft sind sie wichtig. Wieder Boden unter den Füßen zu spüren, sich zu „verorten“ ist wieder ein Bedürfnis. Plätze zu finden, wo man einmal nichts leisten, nichts darstellen muss – und keine Kreditkarte in den Scanner schieben soll. Der Verein „Andere Zeiten“ hat nun eine App mit „Anderen Orten“[1] erstellt – mit Orten, die den Nutzern Erfahrungen von Ruhe, Trost – und Spiritualität ermöglichen. In Soziologie und Theologie spricht man inzwischen vom „Spatial Turn“ – der Raum wird neu entdeckt. Nicht nur als physischer Ort, sondern auch als Lebens- und Sinnzusammenhang. Eine Lichtung im Wald, eine alte Kapelle – auch die Bahnhofsmission kann so ein anderer Ort sein. Oder der Raum der Stille in einem Krankenhaus. In den letzten 20 Jahren habe ich viele davon entdeckt.

Es fing an mit dem alten Gartenhäuschen in Kaiserswerth, wo Theodor und Friederike Fliedner 1832 zwei strafentlassene junge Frauen aufnahmen. Das war die Wurzel der Diakonissenanstalt, die sich bald schon weltweit ausbreitete. Immer wieder besuchen Gruppen das Gartenhäuschen und den Diakonissenfriedhof, das Mutterhaus und das Torhäuschen mit dem kleinen Laden „Eigenart“. Das sind Pilgerreisen – für viele sind diese diakonischen Einrichtungen heilige Orte.

Seitdem interessiert mich der spirituelle Aspekt an solchen Orten ganz besonders. Sie verkörpern Gemeinschaftserfahrung, sie bieten Schutz und Heilung. Diakonie ist ja weit mehr als eine Dienstleistung. Damit Menschen heil werden können, durchatmen und neue Kraft tanken, spielt auch die Umgebung eine Rolle. Die alten Stiftungen wir Bethel oder das Rauhe Haus haben wunderbare Parks. Und die alten Krankenhäuser mit ihren Spitzbögen sahen ein bisschen aus wie Kirchen – vielleicht eine Erinnerung an die mittelalterlichen Klöster, wo die Kranken zuerst gepflegt wurden.

Eine Zeitlang habe ich gedacht, dass diese Welt vergeht. Die großen Heime wurden aufgelöst, die Krankenhäuser brauchen vor allem gute Technik, die Kirchen füllen sich nicht mehr. Aber noch immer ist die Ausstrahlung der Räume wichtig – der Sternenflur im Kinderhospiz, der Labyrinthgarten im Bildungshaus oder der gedeckte Tisch, der alle einlädt.

Für Gabriele Oest, Seelsorgerin bei Diakovere in Hannover, ist Diakonie in der Hannah-Kapelle erfahrbar geworden:

Sprecherin:
„Dort habe ich einen großen Teil meiner Arbeitszeit verbracht: Habe Seminare, Gesprächskreise, Oasen- und Basteltage gestaltet; habe Räume eröffnet, die Geborgenheit und Sicherheit vermitteln, die Vertrauen und Offenheit ermöglichen. Dadurch konnten viele Patientinnen trotz ihrer Krebsdiagnose das innere Gleichgewicht wiederfinden. Patienten, die erstmals die Hannah-Kapelle betreten, sind ganz angetan von der Ruhe und der Freundlichkeit, von dem Geist in diesem Raum. Sie spüren: Hier darf ich mich zeigen, wie ich bin – mit meinen Ängsten und Sorgen, mit meiner Verzweiflung und Wut, mit meinen Tränen; aber auch mit meiner Freude und Hoffnung. Ein Ort, wo ich mir selbst und den anderen offen begegnen darf, der stärkt und zum Wiederkommen einlädt.

Und neben der Hannah-Kapelle gibt es hier viele andere spirituelle Orte wie den Salemsfriedhof, die Mutterhauskirche und die alte Blutbuche im Garten. Sie vermitteln einen Eindruck von vergangenen Tagen und wechselvollen Zeiten und von dem, wie es heute ist.“

Autorin:
Auch Rainer Adomat fasziniert der Gedanke, mit seiner Arbeit in einer schaffenden Generationenkette zu stehen. Er ist Leiter des Schäferhofs im Kreis Pinneberg.

Sprecher:
In der Aura dieses Ortes meint man die langen Zeiträume zu spüren, in denen er wurde, was er ist. Viele Generationen haben mitgeholfen, die positive Ausstrahlung des Schäferhofs weiterzugeben und weiterzuentwickeln.

Autorin:
Der Schäferhof ist eine Einrichtung für wohnungslose Menschen. Und Adomat ist hier am richtigen Platz. Es liegt ihm am Herzen, dass Menschen Zugang zur Fülle des Lebens finden.

Sprecher:
Als ich selbst in der Klinik war habe ich gemerkt, wie wichtig mir der Andachtsraum ist. Aber auch, wie wichtig Gestaltung und Ausstattung sind, um dort Kraft und Besinnung zu finden. Der Schäferhof in Appen hat so eine besondere Aura, hier bei uns sagt man, der Schäferhof sei ein Ort, den der Herrgott bei der Schöpfung besonders liebgehabt hat.

Autorin:
Die alten Parkanlagen, das Rosenbeet und die Blutbuchen – diese Schönheit und Fülle der Schöpfung habe ich auch in Kaiserswerth gefunden. Und auf dem Stiftungsgelände des Rauhen Hauses ist ein Teich am zentralen Ort. Claudia Rackwitz-Busse, ist Leiterin der Diakonengemeinschaft in der Hamburger Traditionseinrichtung:

Sprecherin:
„Regelmäßig begegnen sich hier die betreuten Menschen, die Mitarbeitenden, die Bewohnerinnen des Altenheims, Studierende der Hochschule. Sie staunen im Frühjahr über die ersten Entenküken, genießen, auf den Bänken sitzend, die Sonne und den Augenblick. Dieses Miteinander auf Augenhöhe gefällt mir ganz besonders.

Ich wäre nicht Rauhhäusler Diakonin, wenn ich nicht von den Kraftorten und Kraftworten Johann Hinrich Wicherns begeistert und motiviert wäre. Seine Entscheidung, vor über 180 Jahren, an die Orte zu gehen, an denen Not entsteht, war bahnbrechend. “Wenn die Leute nicht zur Kirche gehen, muss die Kirche zu den Leuten gehen”, war sein Motto. Er schuf Räume, in denen Menschen sich entwickeln konnten. Sein Worte aus dem Aufnahmeritual für die Kinder im Rauhen Haus berühren mich bis heute: “Du bist mit keiner Kette gebunden, nur mit einem, dem Band der Liebe…“ Menschen in ihrer Not ansehen, nicht von oben herab, sondern als die, die sie sind, als Geschöpfe Gottes. Daraus entsteht für mich spirituelle Kraft, die einen Ort hat.

Autorin:
Als wir vor Jahren in der Kaiserswerther Diakonie auf der Suche nach spirituellen Orten waren, da haben wir die Kirchen und Kapellen, die Gemeinschaftsräume, Friedhöfe und Gärten besucht, um deren Atmosphäre aufzuspüren. Viele liebten die alten „durchbeteten Räume“ – aber sie wünschten sich Zeichen, dass jeder und jede hier willkommen ist: ein Weihwasserbecken am Eingang zum Beispiel, eine Ikone an der Kerzenwand, Sitzkissen und Matten für die Meditation, leise Musik. An vielen Stellen wird heute versucht, solche interreligiösen Räume zu gestalten, gerade auch in Schulen und Krankenhäusern. Schließlich arbeiten und lernen dort längst Menschen aus anderen Kulturen und Religionen. Aber bei der Gestaltung der Räume wird schnell spürbar, wie eng die Verbindung von sozialer Arbeit und christlichem Glauben bei uns ist. Bilder, Symbole, ja die Architektur weisen darauf hin. Wo gepflegt wird, finden sich Bilder vom Barmherzige Samariter, wo Wohnungslose Hilfe finden, die Werke der Barmherzigkeit: Hungrige speisen, Durstige tränken, Gefangene besuchen. Welche Worte und Zeichen aus anderen Kontexten könnten behutsam eingefügt werden? Diakonie geschieht heute auf dem Sozialmarkt, mitten in einer bunten Gesellschaft. Es wäre fatal, wenn die spirituelle Räume dabei verloren gehen.

Auch Friederike Weltzien hat Erfahrungen mit spirituellen Orten gesammelt, im Libanon und später als Gemeindepfarrerin in der Nähe von Stuttgart.

Sprecherin:
Ein spiritueller Ort entsteht immer als Zwischenraum, ein Zwischenraum zwischen Menschen. Dort, wo sich so etwas wie ein seelisches Angesprochensein ereignet – in einem Kirchenraum, in einer Moschee oder einer Synagoge oder auch zum Beispiel an einem Baum oder vor einem Kunstwerk. All das kann für mich zum spirituellen Raum werden. Ein Raum, in dem Gottesbeziehung möglich wird.

Besonders spürbar wird die Diakonie aber in der Gemeindeküche. Im Herbst 2015 öffneten wir die Türen unserer Räume für Flüchtlinge, das größte Bedürfnis der Menschen war, selber Essen zu kochen, etwas, was sie kennen und was ihnen schmeckt. Also wurde jeden Dienstag für achtzig Leute gekocht. Die Hilfsbereitschaft war groß, aber in der Küche trafen die Kulturen aufeinander. Dinge veränderten sich, zunächst gab es viel Aufregung in der Gemeinde und auch Sorgen und Ängste. Aber gerade da entwickelten sich die intensivsten Kontakte auch ohne Sprachkenntnisse. Inzwischen ist es selbstverständlich geworden. Es wird immer noch regelmäßig syrisch gekocht und gemeinsam gefeiert und gegessen. Und da werden religiöse Themen ganz zwanglos miteinander diskutiert und besprochen und vor allem erlebt.“

Autorin:
Die Gemeindeküche als spiritueller Ort. Das Gemeindehaus als ein Platz, wo Menschen Zeit haben – offen für alle. Solche Orte folgen nicht den Regeln der ökonomischen Logik. Sie richten sich nicht nach vorgegebenem Hilfestandards und auch nicht nur an „Hilfebedürftige“ im Sinne des Sozialgesetzbuches. Schließlich suchen wir alle in bestimmten Phasen nach Schutz und Trost, suchen Rückzugs- und Lernorte oder solche, an denen etwas Neues beginnen kann. Und finden sie auch an Orten, die keine lange Tradition haben.

Manchmal sind die traditionsreichen Orte schon lange leer. Manchen haften dunkle Erinnerungen an. Auch in der Diakonie gab es Missbrauch und Menschenverachtung. Und manchmal sind sie einfach nicht mehr geeignet für die Anforderungen unserer Zeit. Aber es gibt sie noch, die Orte zum Auftanken, diakonische OrteWer die Augen offen hat, findet sie – an vielen Bahnhöfen und überall im Land vom Rauhen Haus bis nach Rummelsberg. Oder mitten in der Natur. Und immer mehr Menschen finden da ihren Herzensort. Und teilen ihn mit anderen. Die App unter ‚andereorte.de‘ ist eine gute Möglichkeit dafür, ein virtuelles Netzwerk, das auf ganz konkrete Orte und Begegnungen hinweist. 

 

[1] www.andereorte.de

 


Lebenszeichen SR 29.7.17

Auf der Suche nach dem Zauberwort

„Welche drei Postkarten würden Sie gern im Urlaub schreiben und an wen?“ Oder: „Gibt es Dinge, die Sie schon immer mal tun wollten, aber nie in die Realität umgesetzt haben? Notieren Sie sie!“

Das sind Impulse aus meinem kleinen gelben Urlaubsbuch – einer wunderschönen Kladde mit kleinen Texten und viel Raum zum Schreiben. In diesem Sommer begleitet sie mich – und wieder einmal entdecke ich, dass Schreiben wie Meditation sein kann. Im Strandkorb mit der Kladde auf dem Schoss. Oder in einem Straßencafé – vor mir ein paar schöne Karten und ein Glas mit Eiskaffee. Mein Urlaubsbuch hat Platz für Fotos, Eintrittskarten oder für ein Gedicht. Und viel Raum zum Nachdenken und Spinnen. Denn wenn der Kopf endlich frei ist, kommen die Ideen wieder hoch, die mir während des Alltags durch den Kopf schießen und irgendwohin ins Unbewusste sacken, weil ich keine Zeit habe, sie ernst zu nehmen. Jetzt kann ich den Spuren nachgehen, vielleicht führen sie ja weiter. Endlich querdenken – Gedanken und Bilder aus ganz verschiedenen Zusammenhängen verknüpfen. Den Dingen auf den Grund-, in die Tiefe gehen. Manchmal klären sich dabei Fragen, die mir selbst kaum bewusst waren, weil sie im Alltag unter der Oberfläche verborgen geblieben sind. Gedichte fallen mir ein, Gebete und auch Bibelworte kommen mir in Erinnerung.

Ich schreibe, lese nach, schreibe weiter. Manchmal mache ich mit einer kleinen Skizze die innere Landschaft sichtbar. Manchmal bleibt am Ende nur ein einfacher Satz. Dann spüre ich, wie alles klar und leicht wird. Und lege die Kladde beiseite. Jetzt kann ich die Dinge stehen lassen, wie sie sind – ich finde langsam zur Ruhe, zum Schweigen, zum Hören. Und plötzlich habe ich das Gefühl, die Welt spricht ganz unmittelbar, die Vögel beten, die Blüten loben das Leben. Der Dichter Josef von Eichendorff erzählt davon in seinem berühmten Gedicht: „Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort. Und die Welt fängt an zu singen, find‘st Du nur das Zauberwort.“

Die Welt spricht. Sie singt, sie seufzt, sie schreit auch manchmal. Gottes Geist singt und seufzt in ihr. Gott spricht zu mir durch seine Schöpfung – so wie er durch sein Wort zu mir spricht. Der Koran, habe ich neulich gelesen, sei die sprechende Schöpfung. Und die Schöpfung der schweigende Koran. Damit sie spricht, braucht es das Zauberwort, das sie zum Klingen bringt wie ein Klöppel eine Klangschale. Konfirmanden haben mich gefragt, ob wir Gott heute noch hören könnten – ganz unmittelbar so wie Abraham oder Jakob, die Propheten und Heiligen? Ist Gott stumm geworden oder findet sein Wort keine Resonanz bei uns? Vielleicht sind wir vor lauter Worten taub geworden, vor lauter Bildern blind? Das Zauberwort, das in uns und anderen etwas anrührt – es scheint vergessen zu sein.

Mein Urlaubsbuch erinnert mich daran, wie ich diesem Wort auf die Spur kommen kann. Vielleicht geht es im Urlaub genau darum, dass ich das Zauberwort finde. Ich muss leer werden, zur Ruhe kommen. „ Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft“, heißt es in den Psalmen, dem alten Gebetbuch der hebräischen Bibel. Das ist wohl der Kern des Betens: Dass es still wird in mir, damit ich das Wort höre, das alles zum Klingen bringt. Dass ich in Resonanz komme mit der Welt. Manchmal schreibe ich, manchmal walke ich durch den Wald, bis ich den Kopf frei habe und die Vögel wieder singen hören und wahrnehme, wie das Licht durch die Bäume fällt. Andere entdecken Malbücher für sich als Entschleunigung in hektischen Zeiten. Neulich habe ich eines mit diesem Gebetstitel entdeckt: „Meine Seele ist stille“. Da ist auf jeder Seite ein Ausmalbild mit einem Psalmvers. Beim Malen kann man den dann meditieren und so vielleicht das Wort finden, dass die Schöpfung zum Klingen bringt.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie in diesen Sommerwochen Ihr Wort finden und dass Sie dann dem Klang der Welt lauschen können.


Geistliches Wort zu Fronleichnam, 15.6.17, WDR 3, 8.35 Uhr

Gott einen Platz in der Welt schaffen

Autorin: Auf dem Gelände stehen zwei große Holzkreuze. Hier versammeln sich jeden Sonntag Männer und Frauen, um zu beten, zu hören, zu singen und zu schweigen. Sie halten inne. Sie zeigen, dass sie da sind. Sie stärken sich. Jemand liest ein Gedicht, eine greift zur Gitarre und stimmt ein Lied an, ein anderer berichtet aus dem Planungsverfahren.

Seit 1989 gibt es das „Gorlebener Gebet“. Sonntag für Sonntag wird es von Gruppen und Einzelnen ganz unterschiedlich gestaltet. Mitten im Wald, in Sichtweite der möglichen Endlagerstätte für Atommüll – am sogenannten Kreuzweg für die Schöpfung. Da, wo die zwei Holzkreuze den Versammlungsplatz markieren – eines davon aus dem Atomkraftwerk Krümmel. Das Gorlebener Gebet gehört zum Widerstand gegen die Atomkraftanlagen im Wendland. Eine feste Liturgie gibt es nicht. Mir imponiert die stille Durchhaltekraft dieser Bewegung. Engagierte aus unterschiedlichen Kirchengemeinden und Konfessionen kommen hier zusammen – von überall her. Menschen, die diesen Platz als Gottes Schöpfung wahrnehmen. Die Licht durchfluteten Baumkronen jetzt im Mai, die weißen Blüten des Waldmeisters. Schönheit pur. Es ist ein heiliger Ort, an dem diese Gemeinde sich sammelt, um miteinander zu beten und zu singen. Aber es ist auch ein bedrohter Ort. Seit dem GAU von Tschnernobyl ist jedem bewusst, wie unvorstellbar und unwiderruflich die Zerstörung durch Atomkraft sein kann.

Der Theologe Klaus Müller hat die Angst davor ganz unmittelbar erlebt. Während der Kubakrise – auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen zwischen Chrutschow und Kennedy. Am entscheidenden Abend saß er mit einem Freund zusammen. Er schreibt:

Sprecher: „Ich war erfüllt von einer merkwürdigen Abschiedsstimmung, so als ginge an diesem Abend die uns vertraute, uns bergende Natur zu Ende, als sei ein unwiderrufliches Datum der Schöpfung erreicht, das für den Menschen und seine Naturgefährten, die Pflanzen und die Tiere den Tod bedeuten konnte…Ich erinnere mich, wie wir fast wehmütig einige Gräser am Straßenrand und einen Baum auf dem Platz vor dem Lokal betrachteten – in der völligen Verunsicherung, ob das nicht der letzte Abend sei, an dem zwischen Mensch und Natur dieses großartige vorgestiftete, im Kern noch intakte Verhältnis eines geschöpflichen Miteinanders bestehen würde… Jede erhebende Gotteserfahrung war uns entrückt, das Kreuz für die ganze belebte Schöpfung war in Reichweite.“

Autorin: „Die ganze Schöpfung seufzt“ und wartet auf ihre Erlösung, schreibt schon der Apostel Paulus. Und davon erzählen auch die beiden Kreuze in Gorleben, die dort seit 28 Jahren stehen – als wäre der Platz im Wald eine Kapelle.

Heute, an Fronleichnam, tragen katholische Gemeinden wieder das Allerheiligste, die geweihte Hostie, in einem Festzug durch die Straßen und über die Felder. Manchmal werden noch Außenaltäre aufgestellt, an denen jeweils ein Abschnitt aus dem Evangelium vorgetragen wird, es werden Fürbitten gesprochen und der Segen wird in alle Himmelsrichtungen erteilt. Ich habe lange im Rheinland gelebt und kann mich gut erinnern an die schön geschmückte Monstranz mit dem Allerheiligsten, den Stoffhimmel darüber, die Priester und Messdiener und das Weihwasser, das mit Schwung über die Felder verteilt wurde. Ein Segen für die ganze Schöpfung – die Heiligsprechung allen Lebens. Auch und gerade des bedrohten und vielfach schon zerstörten Lebens. Dass im Allerheiligsten der gebrochene Leib Christi aus der Kirche heraus getragen wird – in die bedrohte Natur, das empfinde ich als starkes Zeichen. Mitgefeiert habe ich aber nie – als ich noch im Rheinland lebte, beäugten sich Protestanten und Katholiken allenfalls von Ferne. Und auf dem Land konnte es noch passieren, dass evangelische Bauern an Fronleichnam die Gülle ausbrachten- so wie ihre katholischen Nachbarn am Karfreitag. Das gehört wohl zu den Flurschäden der Reformation: Weil sich das Fronleichnamsfest, das erst im hohen Mittelalter entstand, aus der Bibel nicht begründen lässt, hatte Luther geschrieben: „Ich bin keinem Fest mehr feind … als diesem. Denn da tut man alle Schmach dem heiligen Sakrament, dass man’s nur zum Schauspiel umträgt.“ Ja, ein Schauspiel ist es, eine große Inszenierung, die nur ein Zentrum hat: Das Allerheiligste soll in die Welt hinaus – auf die Straßen, auf die Felder. Weihwasser oder Gülle? Dieser Streit zwischen Christen hat sich Gott sei Dank erledigt: Mir jedenfalls geht es heute vielmehr darum, der Zerstörung unsers Planeten, der Anbetung falscher Götter etwas entgegen zu setzen.

Musik

Sprecher: Vielleicht kennen Sie die Geschichte von dem Indianerhäuptling, der mit Freunden durch eine Großstadt geht und seine Begleiter auf eine seltene Vogelstimme aufmerksam macht. Die anderen hatten nichts gehört. Als allerdings der Häuptling ein Cent-Stück fallen ließ, da waren ihre Ohren fein genug.

Autorin: Geld können wir hören, darauf sind wir trainiert. Die Stimme der Natur aber bleibt uns verschlossen. Worauf sind unsere Sinne ausgerichtet? Was riechen, sehen oder hören wir, wenn wir unterwegs sind durch unsere Städte?

Sprecher: „Kleine Leute in der großen Stadt“, heißt ein wunderbarer Bildband mit den Miniatur-Skulpturen von Slimkachu. Das Miniaturvölkchen, das er in den englischen Großstädten zum Leben erweckt, hat die Größe von Eisenbahnfiguren. Da sieht man ein Rettungsboot in einer Pfütze. Einen Winzling, der am Straßenrand versucht, ein Auto herbei zu winken. Kleine Leute, die Erdnussflips abtransportieren wie die Ameisen. Einen Mann, der mit einer Sicherheitsnadel ermordet wird. Man sieht – nein, nur, wer sehen kann, sieht. Die meisten werden die Dramen, die da gezeigt werden, übersehen.

Autorin: Was dem einen eine Pfütze, ist dem anderen der Ozean. In unserer Gesellschaft werden die Unterschiede größer, sie wird bunter, aber sie spaltet sich auch – ökonomisch, sozial und kulturell. Die Bedeutung von Erwerbsarbeit steigt, aber immer mehr können von ihrer Hände Arbeit nicht mehr leben. Viele müssen am Ende mit geringen Renten auskommen: Eltern kleiner Kinder, Frauen und Männer, die Angehörige pflegen, chronisch Kranke oder Menschen mit Behinderung. Vor 40 Jahren hat der Berliner Theologe Ernst Lange vom Ensemble der Opfer gesprochen- von den Kindern, den Alten und den Migranten etwa, die durch die Risse unserer Gesellschaft fallen.

Ernst Lange hat seine Ladenkirche dagegen gesetzt – einen Treffpunkt in Berlin-Spandau. Niedrigschwellig, offen für jeden. Ein ehemaliger Laden zwischen Kaufhäusern und Kneipen wurde zur Herberge in den Wüsten der Stadt. Ein Platz, wo jeder willkommen war und zur Ruhe finden konnte, wo es diakonische Hilfen gab, wo aber auch Gottesdienste gefeiert wurden. Ein kleiner Leuchtpunkt mit besonderer Anziehungskraft. Neulich musste ich nochmal daran denken. Mitten in der Ladenstraße einer großen Uniklinik sah ich eine beleuchtete Kapelle mit einem Seelsorgeangebot. Wer wollte, konnte einfach hereinkommen. Für sich bleiben oder reden.

Sprecher: Es ginge darum, Gott einen Ort zu sichern, hat die katholische Sozialarbeiterin und Mystikerin Madeleine Delbrel gesagt – einen Ort in den Fabriken und vergessenen Nachbarschaften, an den Orten des Leidens, auch jenseits traditioneller Konzepte. Und sie tat das mit ihrer Kommunität in den Banlieus von Paris. „Die ganze Kirchengeschichte hindurch gibt es so etwas wie „Landstreicher“, schreibt Debrel, „Landstreicher, die immer unterwegs sind auf den Straßen, die den Weg Christi eingeschlagen haben, nicht um etwas bestimmtes zu tun oder etwas von A bis Z zu erledigen, sondern um den ganzen Weg entlang die Gebärden Christi zu vollziehen… Gebärden von Menschen, die sich ihre Begegnungen nicht aussuchen, die nicht selbst wählen, wohin sie gehen sollen, die annehmen, was Gott ihnen schickt: was und wen. Menschen, die versuchen, unaufhörlich versuchen, für jeden und jede das zu sein, was Christus gewesen ist.“

Autorin: Genau das versuchen die vielen Ehrenamtlichen an den Tafeln und in den Vesperkirchen, im Krankenhaus und bei der Hausaufgabenbetreuung. Sie arbeiten daran, dass die Kirche zum tragfähigen Netzwerk wird – für alle, die sonst übersehen werden. Dann kann gelingen, was eine afrikanische Weisheit sagt: „Viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele kleine Dinge tun, können das Angesicht der Erde verändern“.

Musik:

Autorin: Das Angesicht der Erde verändern. Darum geht es auch an Fronleichnam. Als Kind der 50er Jahre habe ich erlebt, wie sich an Fronleichnam die Stadt ändert. In Neviges, einem alten Wallfahrtsort, knieten die Menschen noch auf dem Bürgersteig, wenn die Prozession vorbei kam. Als sei die Straße zur Kirche geworden. Seitdem hat mich diese Frage beschäftigt: wie es wohl auf der Straße aussehen müsste, wenn unser Alltag zum Gottesraum würde. Wenn wir ihn sichtbar, hörbar und fühlbar bei uns tragen würden. Wenn ein „Friede sei mit dir“ unser Miteinander bestimmte. Wenn die Würde des Lebens heilig gehalten würde. Kurz: wenn dieser Augenblick eben mehr wäre als ein kurzes Zeichen. Eine erinnerungsträchtige Inszenierung.

Vor Jahren habe ich in den Straßen von Jerusalem etwas Ähnliches erlebt. Am Holocaust-Gedenktag steht dort das Leben für zwei Minuten still. Autos und Fußgänger verharren wie von einer unsichtbaren Hand gestoppt. Der Alltag friert ein – als Zeichen für die grausame Vernichtung, die sechs Millionen Juden in ganz Europa das Leben gekostet hat. Wer diesen Schmerz vergisst, weiß den wunderbaren Neuanfang nicht zu schätzen. Ist es nicht ähnlich mit der Monstranz, die heute durch die Straßen getragen wird? Der blutende Leib Christi, an den die Oblate erinnert, zeigt ja, wie Gott selbst leidet an seiner Schöpfung, an der der zerrissenen Welt. Dass er sich mitten hinein begeben hat in unser Leben – gefoltert unter Pilatus, geschändet am Kreuz, auferstanden als unsere Hoffnung. Diese Solidarität mit den Leidenden und diese Hoffnung auf Leben sollen wir weiter geben, wir sollen sie sichtbar machen mitten im Alltag.

Das geschieht heute an Fronleichnam und es geschieht Sonntag für Sonntag im Gorlebener Gebet. Es geschieht in den Vesperkirchen und bei den Mittagstafeln. Und vielleicht auch übermorgen wieder, am 17. Juni, wenn Menschen Tische und Stühle auf die Straße setzen und andere einladen. Zum Tag der Offenen Gesellschaft. An einem Tisch wollen sie mit anderen ins Gespräch kommen, einander sehen und wahrnehmen, miteinander essen und trinken und feiern. Viele Kirchengemeinden sind auch dabei. Damit Gott einen Ort hat mitten im Leben. Vielleicht machen Sie ja mit?

Mit dieser Idee grüßt Sie Pastorin Cornelia Coenen-Marx aus Hannover.

Musik:

Cornelia Coenen-Marx


Morgenandachten im DLF vom 6. bis 11.2.2017

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1. Morgenandacht am 06.02.2017 im DLF

In meinen Schuhen

Sind Sie schon fertig für den Tag? Gestiefelt und gespornt? Ein paar warme Stiefel sind in diesen Wochen Gold wert – als Schutz gegen die ungemütliche Kälte, gegen Schneematsch und Pfützen. Und abends freut man sich dann, sie wieder auszuziehen – in gemütliche Stricksocken zu schlüpfen und endlich wieder die Füße auf dem Boden zu spüren. Aber auf meine Stiefel möchte ich nicht verzichten – sie gehören ins Schuhregal wie die Laufschuhe, die eleganten Hochhackigen, die Turnschuhe und die Sandalen. Mehr braucht es eigentlich nicht – keine dreißig Paar im Regal. Ich weiß ja, wie viele Menschen glücklich wären, wenn sie überhaupt ein paar passende Schuhe hätten. Die Jungs mit den durchgelaufenen Turnschuhen auf der Flucht. Die Kinder in zu klein gewordenen Sandalen – mit löchrigen Socken in Kälte und Regen.

Jahrelang habe ich nicht viel über Schuhe nachgedacht. Was kaputt war, wurde ersetzt; Schuhkauf ging meist schnell, man hat so seine Gewohnheiten. Erst seit mein Rücken manchmal aufmuckt, schaue ich mehr auf meine Füße. Ob ich fest stehe, ob ich sicher unterwegs bin. Ein paar wirklich gute Schuhe machen den Unterschied. Auf die Menge kommt es nicht an.

Jetzt ist mir wieder eingefallen, dass Jesus seine Jünger ganz ohne Schuhe losschickte. Jedenfalls erzählt das der Evangelist Matthäus. Markus meint, er hätte ihnen wenigstens Sandalen erlaubt. Im Markusevangelium steht: „Er gebot ihnen, außer einem Wanderstab nichts auf den Weg mitzunehmen, kein Brot, keine Vorratstasche, kein Geld im Gürtel, kein zweites Hemd und an den Füßen nur Sandalen“. Wer jetzt denkt, das wäre auf den staubigen Straßen Israels und Palästinas kein Problem, der hat Jerusalem noch nicht im Winterregen erlebt. Oder gar im Schnee.

Ehrlich gesagt: diese Aussendungsrede Jesu ist eigentlich eine Zumutung. Er sagt das auch so: „Ich sende Euch wie Schafe mitten unter die Wölfe“. Verwundbar, ungeschützt, barfüßig. Denn natürlich gab es auch im Heiligen Land Leute in Stiefeln – und es gibt sie immer noch. Uniformhosen in Soldatenstiefeln. Hochgerüstete junge Leute. Zur Zeit Jesu waren es römische Soldaten, die das Land besetzt hielten. Die vorwärts marschierten – ohne Rücksicht auf alles, was ihnen in die Quere kam. Kollateralschäden inbegriffen. Stiefel, die dröhnend daher stampfen – in der hebräischen Bibel haben sie keinen guten Klang. Der Prophet Jesaja hofft sogar, dass sie eines Tages überflüssig werden. Wenn der Messias kommt. Der Mensch einer neuen Zeit. Das Kind mit den zarten Füßen.

Jesus, der Wanderprediger, war mit Sandalen unterwegs. Jesus-Latschen, sagte man früher dazu – wer die trägt, geht fast schon barfuß. Da muss man genau hinschauen auf den eigenen Weg. Auf die Steine und die Schlaglöcher achten. Wer sich nicht stoßen und verletzen will, muss in Kontakt zum Boden bleiben. Mir ist aufgefallen, dass diese Art, durch die Welt zu gehen, wieder Konjunktur hat. Barfußschuhe sind nicht nur im Sport gefragt. Ganz leicht und biegsam sollen sie sein. Wer sie trägt, spürt jedes kleine Steinchen; das macht achtsam. Nicht nur für den eigenen Weg, sondern auch für die eigene Haltung.

Seit ich auf meine Schuhe achte, sind sie mir zum Symbol geworden. Die Soldatenstiefel und die Jesuslatschen. Die alte Geschichte vom verlorenen Sohn fällt mir ein, der barfuß und vollkommen abgerissen zurück nach Hause kam. Sein Vater umarmte ihn, kleidete ihn ein – und sorgte dafür, dass er neue Schuhe bekam. So machen es viele, die sich in Kleiderkammern und Notunterkünften engagieren, damit andere wieder aufrecht durchs Leben gehen. Weil sie sich vorstellen können, in den Schuhen der anderen zu gehen, wie es in dem alten Sprichwort heißt.

Und wie gehe ich meinen Weg, wenn ich heute aufbreche? Welche Schuhe ziehe ich an? Es müssen nicht die Jesuslatschen sein im Winterwetter. Aber dass ich achtsam bleibe und nicht als Trampel durch die Welt laufe, das ist mir wichtig. Ab und an im Laufe des Tages werden mich meine Schuhe daran erinnern.

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2. Morgenandacht am 07.02.2017 im DLF

Leichtes Gepäck

Irgendwie wird mein Koffer am Ende immer zu voll. Und mein Rucksack ist meist zu schwer. Mein Nackenkissen muss mit, mein kleiner Thermoskocher und der Tee. Und natürlich der Laptop und das Buch, das ich gerade lese. So sehr ich mich bemühe, mit leichtem Gepäck zu reisen – am Ende habe ich doch zu viel zu schleppen. Und wenn ich mich umschaue auf den Bahnhöfen und in den Innenstädten, dann sehe ich, dass es anderen auch so geht.

Ehrlich gesagt, ich ärgere mich darüber. Und ich schaue mit Neid auf manche junge Leute, die es schaffen, mit Handy, Rucksack und Kapuzenshirt weit zu kommen. „Omnia mecum porto mea“ – „All meinen Besitz trage ich bei mir“ soll der griechische Philosoph Bias von Priene gesagt haben, als er aus seiner Heimatstadt floh. Er gilt als einer der sieben Weisen der griechischen Antike. Viel kann er nicht bei sich gehabt haben, als er floh. Er dachte also nicht an materiellen Besitz – anderes war ihm wichtiger. Sein Wissen, seine Fähigkeiten: die konnte ihm keiner nehmen. Dass Erfahrungen wichtiger sind als der Kram, den wir anhäufen, das haben die Jungen heute begriffen, die mit Rucksack und Handy unterwegs sind, während ich mich noch abschleppe mit meinem Gepäck.

Leichtes Gepäck empfiehlt auch Jesus seinen Jüngern – sogar noch härter: den kompletten Verzicht auf all die Dinge, die uns lieb und teuer sind. „Er gebot ihnen, außer einem Wanderstab nichts auf den Weg mitzunehmen“, erzählt der Evangelist Markus; „kein Brot, keine Vorratstasche, kein Geld im Gürtel, kein zweites Hemd und an den Füßen nur Sandalen“. Kein Rucksack also, geschweige denn Thermoskocher und Tee – und auch kein Geld, um unterwegs einen Kaffee to go zu kaufen. Wie soll das gehen? Unwillkürlich sehe ich die Wohnungslosen vor mir und die Schnorrer, die auf dem Bahnsteig um Geld für eine Fahrkarte betteln: Wer will schon so leben? Was Jesus da sagt, ist eine Zumutung!

Aber es gibt sie, die Christinnen und Christen, die das versuchen – die Gemeinschaften, in denen jeder einzelne auf persönlichen Besitz verzichtet. Die Franziskaner zum Beispiel, die wie ihr Ordensgründer Franziskus von Assisi den spirituellen Reichtum in der Armut suchen. Wer selbst nichts besitzt, wer nichts bei sich hat, ist auf die Zuwendung und Gastfreundschaft anderer angewiesen. Der muss bitten und manchmal auch betteln. Und kann bald unterscheiden, von wem Hilfe zu erwarten ist und von wem nicht. Wer offen und wer abweisend durchs Leben geht. Die Schnorrer am Bahnhof haben einen Blick dafür. Und umgekehrt gilt: wer weiß, wie es ist, unterwegs und bedürftig zu sein, wird den Reisenden die Tür öffnen – und mehr noch das Herz, wie es in den Klöstern heißt.

Die wenigsten leben so radikal. Selbst die Zahl der Orden schrumpft. Nur die Wohnungslosen und Flüchtlinge sind noch dicht dran an den Erfahrungen der Jesusgemeinschaft. Und vielleicht auch die, die alles verkaufen, was sie haben, und sich auf eine große Reise begeben. Die noch einmal neu anfangen wollen, das Leben neu entdecken – bei einem Auslandsaufenthalt, in einem Sabbatjahr oder bei einer Weltumseglung. Da reist man am besten mit leichtem Gepäck. Mit leeren Händen und offenem Herzen: was Jesus seinen Jüngern empfiehlt, macht den Neuanfang möglich. Jeden Tag.

„Alles, was ich habe, trage ich bei mir.“ Der Weise Bias von Priene erinnert an den unsichtbaren Besitz, die Schätze, die man nicht sehen kann. Jesus spricht von Schätzen im Himmel, die Motten und Rost nicht fressen können. Von dem, was nicht kaputt geht, was man nicht vergessen kann, womit sich keiner abschleppen muss. Von dem, was wirklich reich macht. Neue Erfahrungen gehören dazu und alte Freundschaften. Und Menschen, die mir und denen ich offen begegne.

Ein gutes Buch und eine Kladde für überraschende Ideen – die schleppe ich auf diesem Weg nun wirklich gerne mit. Sie sind so wichtig wie die Wasserflasche und das Handy. Anderes sollte ich lieber hinter mir lassen. Wer Erfahrungen sammeln will, darf den Rucksack nicht zu voll haben.

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3. Morgenandacht am 08.02.2017 im DLF

Schlüsselerfahrungen

Ich mag es, wenn mein Schlüsselbund schwer in der Hand liegt – dann verlegt er sich nicht so leicht. Abends hat er seinen festen Platz am Schlüsselbrett, tagsüber am Lederriemen in meiner Handtasche. Wer kennt sie nicht – die Angst, den Schlüssel zu vergessen oder gar zu verlieren. Vielleicht behalte ich auch deswegen noch den einen oder anderen Schlüssel, mit dem ich eigentlich gar nichts mehr anfangen kann. Er macht den Schlüsselring schwer – und er weckt Erinnerungen.

Im Schlesischen Museum in Görlitz habe ich ein Schlüsselbrett gesehen, dass mich tief beeindruckt hat. Dort hängen an einfachen Nägeln die Wohnungsschlüssel von Heimatvertriebenen aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg. Eigentlich hätte man sie gar nicht mitnehmen dürfen – die Häuser wurden ja enteignet und anderen übergeben. Aber viele haben es dennoch getan und ihren Schlüssel Jahr um Jahr aufbewahrt oder bei sich getragen – den Schlüssel zur verlorenen Heimat, zu einem Ort, der für immer verschlossen sein sollte. Wahrscheinlich waren dort die Schlösser längst ausgewechselt – aber darum ging es nicht. Es ging um die Erinnerung an ein verlorenes Paradies, um den Traum von der Rückkehr, vielleicht auch um einen Anspruch.

Ich kannte das auch aus einem ganz anderen Kontext. Von den palästinensischen Familien, die ihre Wohnungsschlüssel seit der Vertreibung im Unabhängigkeitskrieg Israels aufbewahrt haben – inzwischen über Generationen hinweg. Als Zeichen für ihre Hoffnung, eines Tages zurück zu kommen. Die Frage nach dem Rückkehrrecht der Flüchtlinge macht es schwer, den Nahostkonflikt zu lösen. Dass die Heimatvertriebenen in Deutschland heute als Touristen, Nachbarn, ja Freunde in ihre alten Dörfer fahren, ist im Vergleich ein Wunder.

Wer den Schlüssel hat, hat das Haus – oder er hatte es mal. Wahrscheinlich ist das der wahre Grund, warum auch ich noch alte Schüssel am Bund habe: Ich hänge an den Orten, die mir die Schüssel erschlossen haben. Der Schlüssel zum Gartentor erinnert an Sommernachmittage. Und der zum Büro an viele spannende Jahre. Der alte Generalschlüssel passt schon lange nicht mehr – das ganze System wurde ausgetauscht. Aber solange ich ihn hatte, spürte ich das Vertrauen und die Verantwortung, die mir mit diesem Schlüssel gegeben war.

Einer der Jünger Jesu wird mit einem überdimensionierten Schlüssel dargestellt. Alte Kirchenschlüssel sehen manchmal so aus – oder Tresorschlüssel. Petrus mit dem Himmelsschlüssel ist in vielen Kirchen zu sehen. Das Bild geht auf ein Jesuswort zurück. „Ich will dir die Schlüssel des Himmels geben“, zitiert ihn der Evangelist Matthäus. „Was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein.“ Das ist nun wirklich ein Generalschlüssel – und wer ihn bekommt, sollte verantwortungsvoll damit umgehen. Er öffnet keine reale Tür – so wenig wie die aus Polen oder Palästina. So wenig wie mein Schlüssel zum alten Gartentor. Aber genauso wie die anderen erschließt er viel mehr: Erinnerungen, Hoffnungen, Heimat – das Himmelreich. Dieser Schlüssel öffnet Herzen. Und er kann auch abschließen – kann Menschen und Geschichten schützen. Ich wünschte, Menschen hätten so einen Schlüssel, um all die unlösbaren Konflikte zu lösen – um verlorene Häuser und Heimaten, um Olivenhaine, Gärten und Arbeitsplätze. Ich wünschte, Menschen hätten einen Schlüssel, um mit ihrer Trauer und ihrem Verlust abzuschließen. Um Hoffnungstüren aufzuschließen, mit Worten und Zeichen, die Herzen erreichen.

Wer das Wunder selbst erlebt hat – in der Begegnung mit polnischen Nachbarn, in Gesprächsgruppen von Israelis und Palästinensern – wer erlebt hat wie scheinbar Unlösbares sich lösen kann, wie Festgefahrenes in Bewegung kommt, wie der Blick plötzlich klar wird, der kann diese Erfahrung weitergeben. So wie Petrus, der bei Jesus glauben lernte. Es war, als drehte sich der Schlüssel im Schloss, als öffnete sich eine Tür. Wer diese Erfahrung gemacht hat, wer den Himmelsschlüssel kennt, kann auch anderen das Herz aufschließen

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4. Morgenandacht am 09.02.2017 im DLF

Energie und Lampenöl

Ein letzter Blick in die Tasche, bevor es losgeht. Schlüssel und Portemonnaie sind da, die Wasserflasche, Kladde und Stifte – und auch das Handy. Und wo ist der Beutel mit dem Stecker und dem Ladegerät? Wenn ich den vergesse, muss ich am Ende andere um Strom fragen. Oder gleich irgendwo am Bahnhof einen neuen Stecker kaufen. Es wäre nicht das erste Mal. In meinem Schreibtisch gibt es inzwischen eine ganze Schublade mit überflüssigen Steckern, zu denen kein Handy mehr passt. Früher, als es noch keinen Strom gab, war’s das Lampenöl. Wie in der Geschichte von den jungen Mädchen, die als Brautjungfern zu einer Hochzeit eingeladen sind. Sie haben kleine Öllämpchen mit, um den Weg des Brautpaars zu erleuchten. Aber der Bräutigam verspätet sich – so lange, bis sie müde werden und einschlafen. Sie werden erst wach, als sie die Rufe hören: Nehmt Eure Lampen, es geht los. Aber inzwischen ist ihr Öl zu Ende gegangen. Und nun zeigt sich: die einen haben vorgesorgt und die anderen nicht. Jetzt scheidet sich die Spreu vom Weizen, wie die Bibel erzählt: „Die törichten aber sagten zu den klugen: Gebt uns von eurem Öl, sonst gehen unsere Lampen aus. Die klugen erwiderten ihnen: Dann reicht es weder für uns noch für euch; geht doch zu den Händlern und kauft, was ihr braucht“. Aber es ist jetzt zu spät; während die jungen Frauen noch unterwegs sind, kommt der Bräutigam; der Zug setzt sich in Bewegung und die Tür zum Hochzeitssaal wird geschlossen. Das Fest findet ohne die törichten statt. „Seid wachsam“, sagt Jesus am Ende der Gleichnisgeschichte. „Denn ihr wisst nicht, an welchem Tag der Herr kommt.“

Wer heute viel unterwegs ist, lernt bald, mit Verspätungen zu rechnen. Gleich ob man Bahn fährt oder im Stau auf der Autobahn steht: es ist gut, nicht nur das Handy mit zu haben, sondern auch den Stromstecker oder besser noch ein Ladegerät. Damit man anderen Bescheid geben kann, wenn es mal wieder nicht klappt wie geplant. Aber Jesus geht es um mehr als um Energie oder Lampenöl. Es geht ihm darum, dass wir vorbereitet sind, wenn die Zeiten sich ändern. Er will uns dabei haben, wenn das große Fest beginnt.

Denn das Hochzeitsfest ist ein biblisches Bild für das Reich Gottes. Für die große Zeitenwende. Wie schnell sich alles ändern kann, erfahren wir gerade: Politisch scheint eine neue Ära begonnen zu haben. Manche sprechen vom Ende des Westens. Andere reden längst schon vom Ende der Wachstumsgesellschaft. Wir erleben ungeahnte Kriege und Katastrophen, Bombenopfer und Flüchtlingselend. Das Ende unserer alten Welt. „Wacht endlich auf“, sagen manche. Vieles hättet Ihr wissen können, wenn Ihr nur die Augen offen gehalten hättet. Weil aber lange alles gut ging, weil alles schien wie immer, sind wir halt eingeschlafen.

Und das Lampenöl, die Energie, die jetzt nötig ist? Geht es um Wissen? Um Informationen? Oder um Kontakte? Alles wichtig, aber das scheint nicht zu genügen. Eher geht es um die Haltung: Dass wir realistisch sind und mit unseren Schwächen rechnen. Dass wir klug sind und Überraschungen für möglich halten – Dinge, mit denen wir nie gerechnet hätten. Im letzten Jahr haben wir einige erlebt – ich jedenfalls hätte nicht mit einem Brexit gerechnet und kaum mit Trump. Aber auch, wenn der Egoismus triumphiert, auch wenn die alte Welt sich noch einmal derartig aufbäumt: Realismus gehört zum christlichen Glauben. Er ist so notwendig wie die Hoffnung auf eine andere, eine bessere Welt. Gottes Zeit kommt noch, sagt die Bibel. Darum lasst Euch nicht irritieren, wenn nicht alles wie erwartet läuft. Sondern rechnet vor allem mit einem: mit seinem Kommen, mit seiner Gegenwart.

Und die wird nicht auf Twitter angekündigt. Gottes Energie spüre ich, wenn ich die Augen schließe. Und still sitze. Manchmal eignet sich eine Zugverspätung ganz gut dafür. Zeit, mit der ich nicht gerechnet hatte. Und die mir Gelegenheit gibt, noch einmal Energie zu tanken und in Ruhe über meinen Weg nachzudenken-. Wenn ich dann noch andern Bescheid geben kann, ist alles in Ordnung. Also: Auch Handy und Ladegerät nicht vergessen.

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5. Morgenandacht am 10.02.2017 im DLF

Wegmarken – Gedanken zur Woche

War das nun ein ökumenischer Meilenstein? Papst Franziskus empfing Montag in Rom eine Delegation der Evangelischen Kirche in Deutschland zusammen mit dem Vorsitzenden der Katholischen Deutschen Bischofskonferenz. Das Abschlussfoto zeigt eine große Runde – der Papst in Weiß, gerahmt von Kardinal Marx, Landesbischof Bedford-Strohm und den anderen Offiziellen – die meisten in Schwarz, manche violett, viele mit Bischofskreuzen. Schön, dass auch Frauen bei sind – gleich neben dem Ratsvorsitzenden seine Stellvertreterin, Annette Kurschus.

Ein Meilenstein? Im Jahr des Reformationsjubiläums sind die Erwartungen groß. Vom gemeinsamen Abendmahl ist die Rede, wenn nicht für alle, dann wenigstens für die evangelisch-katholischen Ehen, die Brückenbauer, die die innerchristlichen Zerreißproben am besten kennen. Auch auf einen Papstbesuch in Deutschland setzen viele ihre Hoffnung in diesem Gedenkjahr. 500 Jahre – das ist doch wirklich lang genug, um die Verletzungen und Kränkungen aufzuarbeiten, die mit der Kirchenspaltung verbunden waren. Nach 500 Jahren ist es Zeit zur Versöhnung. Wenn die Kirchen es nicht schaffen, einander mit der je eigenen Geschichte und Perspektive anzuerkennen – wer denn dann? In „einer Zeit, in der die Menschheit durch tiefe Risse verwundet ist und neue Formen von Ausschließung und Ausgrenzung erfährt“, haben die Kirchen eine besondere Verantwortung, betonte der Papst.

Die Bilder aus Rom wecken Erwartungen: Bedford-Strohm und der Papst, wie sie sich an der Hand halten und gemeinsam in der neuen Luther-Bibel lesen, dem Gastgeschenk der evangelischen Delegation. Der Kelch, der beim Abendmahl in der evangelischen Christuskirche kreist – ein Gastgeschenk des Papstes bei seinem Besuch im Herbst 2015. Damals hatte ihn jemand nach dem Abendmahl in konfessionsverbindenden Ehen gefragt. Jeder solle prüfen, wie die Teilnahme den gemeinsamen Weg stärken könne, hatte der Papst geantwortet. Und hinzugefügt: „Sprecht mit dem Herrn und geht weiter.“

An der Basis haben das viele längst getan. Überall in Deutschland lassen sich Katholiken zum evangelischen Abendmahl einladen, Evangelische nehmen an der Eucharistie teil. Diakonische Einrichtungen fusionieren, Seelsorger arbeiten ökumenisch und auch an evangelischen Häusern ist der Segen der Sternsinger zu finden. Längst wird auch die Taufe wechselseitig anerkannt – und natürlich auch Taufpaten aus der anderen Konfession. Wo Gemeinden zusammengelegt und Kirchen geschlossen werden, engagiert man sich gemeinsam für Kinder und Jugendliche, in Besuchsdiensten oder an Tafeln. Auch gemeinsame Sorgen verbinden.

Die Sehnsucht nach Einheit ist nicht neu. Sie wird dringender da, wo nur noch eine Minderheit zur Kirche gehört. Schon Jesus selbst betete um Einheit, damit die Welt glaubt. Ökumene ist schließlich keine Selbstbeschäftigung der Christen – es geht um die Welt. Mitten in unserer säkularen und pluralistischen Gesellschaft kehrt gerade der Kampf ums Christliche zurück. Im Namen des christlichen Abendlandes bringen manche das Kreuz in Stellung – gegen alle, die anders sind.

„Wir sind gemeinsam auf dem Weg“, so Bedford-Strohm im vorigen Jahr, „Wie schnell dieser Weg geht und wann dieser Weg am Ziel der sichtbaren Einheit ist, kann niemand sagen.“ Die sichtbare Einheit ist Gottes Sache – ich glaube, sie steht am Ende der Zeiten. Aber unterwegs gehen uns immer öfter die Augen auf so wie den Jüngern Jesu auf ihrem Weg nach Emmaus. Beim Brotbrechen, beim Vater Unser, bei einer Taufe spüren wir Gottes Nähe und die Gemeinschaft, die stärker ist als alles Trennende. Nein, das gemeinsame Abendmahl ist noch nicht in Sicht. Und bis eine katholische Bischöfin da steht, wo am Montag Annette Kurschus stand, wird es noch dauern. Ein Meilenstein war‘s wohl nicht am Montag. Aber das Bild macht Hoffnung darauf, dass die Spitzen der Kirche der Basis langsam folgen könnten.

Wenn Sie mit mir über Ökumene sprechen wollen, können Sie mich bis acht Uhr anrufen unter der Telefonnummer 030 325 321 344. Oder diskutieren Sie mit auf Facebook unter „deutschlandradio.evangelisch“.

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6. Morgenandacht am 11.02.2017 im DLF

Wanderstab und Walkingstöcke

Vor der Haustür in unserem Flur steht ein alter Steinkrug mit Schirmen und Stöcken. Die Stöcke fürs Walking stehen da, damit sie immer griffbereit sind. Vor allem am Wochenende, wenn endlich Zeit ist, mal richtig raus zu gehen. Die Stöcke für Bergtouren, die man klein zusammenschrauben und an den Rucksack hängen kann. Und auch der alte Wanderstock von meinem Vater, den ich als Kind so geliebt habe. So ein Stock, an den man kleine Metallplättchen wie Trophäen nageln konnte. Als ich Kind war, waren wir in Mittenwald und auf der Zugspitze, im Rothaargebirge und an der Ostsee – und der Stock erzählt von all diesen Orten, von jeder Station unserer Wege. Auch jetzt noch, nachdem mein Vater schon lange nicht mehr lebt.

Der alte Wanderstock als Erinnerung. Die Walkingstöcke als Aufforderung, endlich mal wieder raus zu gehen. Der Steinkrug im Flur erzählt vom Unterwegssein. Braucht man dazu einen Stock? Interessanterweise wurde schon zwischen den Evangelisten darüber gestritten. Als Jesus seine Jünger aussandte, sagt Matthäus, soll er ihnen verboten haben, einen Wanderstab mit zu nehmen – sogar barfuß sollten sie gehen. Markus dagegen meint, Sandalen seien erlaubt gewesen und auch ein Stock. „Er gebot ihnen, außer einem Wanderstab nichts auf den Weg mitzunehmen, kein Brot, keine Vorratstasche, kein Geld im Gürtel, kein zweites Hemd und an den Füßen nur Sandalen.“

Klar ist also: Wanderstab und Sandalen an den Füßen machen das Unterwegssein leichter. Darum sieht man zunehmend Ältere, die die Walkingstöcke in der Stadt nutzen. Sie entlasten den Rücken, man kann sich darauf abstützen. Die Stöcke der Älteren haben Tradition – sie zeigen Würde und manchmal sogar Macht. Der alte Häuptlingsstab im großen Tonkrug vor meiner Haustür erinnert mich daran – auch er ein Stück aus dem väterlichen Erbe. Ein Geschenk aus Afrika. Aus knorrigem Holz und mit Liebe geschnitzt. Fast wie ein Bischofsstab – nur viel natürlicher. Oben im Griff ist ein Stein eingewachsen – als sei alles Harte besiegt.

Auch, wenn zuerst darüber gestritten wurde, ob die Jünger Jesu einen Wanderstock mitnehmen sollten oder nicht – schon bald wurde der Stab zum Zeichen des Bischofs. Und bis heute signalisiert er die Führerschaft auf dem Weg. Aber die Bischofsstäbe und die Äbtissinnenstäbe sehen schon lange ganz anders aus als der Häuptlingsstab in meinem Krug. Meist sind sie nicht aus einfachem Holz, nicht knorrig und geschnitzt, sondern unbeugsam aus Metall und oft golden verziert. Viel zu groß, um sich darauf zu stützen – Bischofsstäbe dienen dazu, anderen den Weg zu weisen. Im Alltag werden sie nicht gebraucht, auch nicht im Auto unterwegs – nur wenn katholische Bischöfe die Messe eröffnen, kann man ihn sehen, den Bischofsstab. Solche Stäbe dienen dazu, Orientierung zu geben. Mose hatte so einen auf dem Weg durch die Wüste. Und Hirten haben einen, um ihre Herde voran zu treiben.

Wenn ich am Wochenende die Walkingstöcke aus dem Steinkrug nehme und auf meine Stocksammlung sehe, dann denke ich manchmal darüber nach, worauf ich mich stütze auf meinem Weg. Welche Wege ich gegangen bin, und welche ich anderen zeigen will. Welche Wegmarken mir wichtig sind in meiner Geschichte – und was ich nicht vergessen will. Was macht mich stark, wenn neue Herausforderungen vor mir liegen?

In Gedanken nagele ich die Plaketten auf meinen inneren Wanderstab – meine geistige Orientierungshilfe, meine geistliche Wegzehrung. Ich denke an die Orte, die mich geprägt haben – die Kirche, in der ich getraut wurde, das Diakonieunternehmen, in dem ich gearbeitet habe, den Gemeindeladen in Wickrath, die Gedenkstätte in Ausschwitz-Birkenau, die Gemeinden im Nahen Osten. Und die Briefmarken fallen mir ein, die ich über viele Jahre bei jeder Reise in meine Konfirmationsbibel geklebt habe – als eine Erinnerung an so viele prägende Augenblicke. Vielleicht ist ja die Bibel mein Wanderstock. Ich stütze mich auf die Erfahrungen, die ich mir ihr gemacht habe – ich lerne an denen, von denen sie erzählt. So wie ich meinen Rücken beim Walken trainiere.


herzth1.1.2017, Deutschlandfunk DLF, Sonntagmorgen 8.35 – 8.57 Uhr

Ich schenke Euch ein neues Herz

Was die Kirche zum gesellschaftlichen Wandel beitragen kann

Autorin 1:
Im Märchen ist es eine Prinzessin, die wider Willen einen Frosch von ihrem Tellerchen essen und in ihrem Bettchen schlafen lässt – einfach weil sie es versprochen hat und weil ihr Vater darauf besteht, dass man Versprechen einhalten muss? Sie hält es aber nicht aus und schleudert den unangenehmen Frosch schließlich mit Karacho gegen die Wand.

Sprecher 1:
Als er aber herabfiel, war er kein Frosch, sondern ein Königssohn mit schönen und freundlichen Augen. Der war nun nach ihres Vaters Willen ihr lieber Geselle und Gemahl. Da erzählte er ihr, er wäre von einer bösen Hexe verwünscht worden, und niemand hätte ihn aus dem Brunnen erlösen können als sie allein, und morgen wollten sie zusammen in sein Reich gehen. Dann schliefen sie ein, und am andern Morgen, als die Sonne sie aufweckte, kam ein Wagen herangefahren, mit acht weißen Pferden bespannt, die hatten weiße Straußfedern auf dem Kopf und gingen in goldenen Ketten, und hinten stand der Diener des jungen Königs, das war der treue Heinrich. Der hatte sich so betrübt, als sein Herr war in einen Frosch verwandelt worden, dass er drei eiserne Bande hatte um sein Herz legen lassen, damit es ihm nicht vor Weh und Traurigkeit zerspränge. Und als sie ein Stück Wegs gefahren waren, hörte der Königssohn, dass es hinter ihm krachte, als wäre etwas zerbrochen. Da drehte er sich um und rief: „Heinrich, der Wagen bricht!“
„Nein, Herr, der Wagen nicht,
Es ist ein Band von meinem Herzen,
Das da lag in großen Schmerzen“.
Noch einmal und noch einmal krachte es auf dem Weg, und der Königssohn meinte immer, der Wagen bräche, und es waren doch nur die Bande, die vom Herzen des treuen Heinrich absprangen, weil sein Herr erlöst und glücklich war.“

Musik 1 Ralf Benschu & Jens Goldhardt : Tr.9 Louisa, Wolke 7

Autorin 2:
Endlich wieder frei atmen können. Einander mit freundlichen Augen anschauen. Einander von Verwünschungen befreien. Den Liebsten umarmen und miteinander tanzen. Was für schöne Bilder das alte Märchen für das Glück findet – und wie treffend es das Unglück beschreibt. Eiserne Ringe ums Herz – aus Stress und Kurzatmigkeit, aus Angst und Abwehr. Das schnürt einem die Lebensfreude ab. Traurigkeit und Ekel vor der Welt – als ob alle nur etwas von mir wollen: von meinem Tellerchen essen, in meinem Bettchen schlafen…

So geht es vielen in unserer Gesellschaft, wie Umfragen zeigen. Persönlich erhoffen sie sich ein gutes und erfolgreiches neues Jahr – aber auf die politische Entwicklung sehen sie mit Angst. Unsichere Arbeit und Renten, steigende Mieten, immer mehr Druck und all die vielen, die nicht mithalten können. Wie lassen sich die Herausforderungen bewältigen, wie lernt man damit so umzugehen, dass man daran wachsen kann?

Angst breitet sich aus – vor Flüchtlingen und Migranten, aber auch vor neuem Nationalismus und rechter Gewalt. Vor Terror und Anschlägen, aber auch vor Überwachung und Einschränkungen der Freiheit. Mit der Angst wächst auch die Angst vor der Angst… Und unter der Angst verwandeln sich Menschen in Schreckgespenster. Wer Angst hat, verkriecht sich in einem Panzer. Die Bibel nennt das Herzenshärte – ein Herz aus Stein. Und das fühlt sich nicht gut an. Aber Gott verspricht seinem Volk ein neues Herz, ein Herz aus Fleisch und Blut. Gebrochene Herzen sollen heilen, verzagte getröstet werden, unruhige Ruhe finden. Mehr als tausendmal findet sich dieses Versprechen in der Bibel. Und die Jahreslosung für 2017 nimmt es auf – mit einem Zitat des Propheten Hesekiel[1]: „Ich schenke Euch ein neues Herz und lege meinen neuen Geist in Euch“, sagt Gott.

Musikakzent: Ralf Benschu & Jens Goldhardt „Elemente“ Tr. 6 „Erde“ ab Beginn

Vor wenigen Wochen habe ich an einer Diskussion über das hessische Integrationsgesetz teilgenommen. Ich war positiv überrascht, wieviel gute Ideen, Geld und Kraft die dortige Landesregierung einsetzt, um Zuziehende zu integrieren – und denen, die schon lange hier leben, die Angst zu nehmen. Neue Lehrerinnen und Lehrer werden eingestellt, zusätzliche Kita-Plätze geschaffen, ein großes Wohnungsbauprogramm steht an und die Förderung des Ehrenamts. Da haben Menschen zusammen gesessen, die nicht nur einen klaren Blick für die notwendigen Integrationsanstrengungen haben, sondern auch für die liegen gebliebenen politischen Aufgaben. Aber am Ende wird es darauf ankommen, dass die Stimmung im Land nicht kippt. Dass die Bürgerinnen und Bürger Vertrauen in die Zukunft und auch in ihre Institutionen haben und dass sie weiterhin bereit sind, sich zu engagieren. Politische Programme sind wichtig – entscheidend ist aber, die Herzen zu bewegen. Deswegen wird überlegt, eine Kampagne mit dem Hessischen Löwen zu starten: Der „Löwe im Herzen“. Stark und mutig sollen die Hessen in die Zukunft gehen. Vielleicht nicht der Löwe, aber doch dessen Mut und Stärke würde allen Menschen gut stehen. Mich beschäftigt, was die Kirche zu diesem neuen Gemeinsinn beitragen kann.

 

Sprecher 2:
Der Theologe Ernst Lange hat sich schon in den 60er und 70er Jahren mit der Frage beschäftigt, wie Veränderungsprozesse gelingen können. Er hat Befragungen der Kirchenmitglieder durchführen lassen und Reformprojekte in der Kirche analysiert. Letztlich kommt es darauf an, dass Interessen und Konflikte transparent und tabufrei benannt werden, meint Ernst Lange. Alles muss auf den Tisch – gerade deshalb, weil gesellschaftliche Konflikte meist kein Streit zwischen Gleichen sind, sondern Macht- und Herrschaftskonflikte zwischen Ungleichen. Der Weg zur Versöhnung führt darum oft genug „über Krise, Polarisierung und Konfrontation“. Ernst Lange spricht in diesem Zusammenhang von Exorzismus.[2]

Autorin 3:
Manchmal muss man offenbar den Frosch gegen die Wand werfen – und das hat mit Gefühlen zu tun. Wer den amerikanischen Wahlkampf beobachtet hat, die Debatten um die Stimmungsdemokratie, der weiß, dass es im Augenblick nicht mehr um intellektuelle Diskurse geht. Und das es vorbei ist mit Mainstream und Harmonie.

Sprecher 3:
Die Kirchen, meint Ernst Lange, müssten in solchen Situationen dafür sorgen, dass auch die Minderheiten zu Wort kommen. Und dass die Widersprüche benannt werden. Es reicht nicht, wenn Bischöfe den Weg weisen oder wenn kirchliche Gruppen zeigen, was möglich ist. Es geht um einen umfassenden Lern- und Orientierungsprozess- über die Erfahrung und sinnliche Wahrnehmung des Augenblicks hinaus. Es geht darum, dass die Gewissen der Mehrheiten sich transzendieren. [3]Wo Reformer und Bewahrer sich misstrauen, wachsen die Feindbilder. Neues entsteht nur, wenn alle offen und ehrlich ins Gespräch kommen. Dafür ist Vertrauen nötig, auch Gottvertrauen.

Autorin4:
Tatsächlich, es geht um einen neuen Geist. Nicht nur für einige wenige, sondern für alle. Ich denke darüber nach, was der Theologe Ernst Lange mit Exorzismus meint – er hat ja Recht: man muss die bösen Geister austreiben, damit ein neues Leben Raum gewinnt- ein Leben ohne Angst. Und dazu reicht es nicht, es an Silvester knallen zu lassen, wie es diese Nacht viele getan haben. Es geht darum, die Verfluchten und Verwünschten zu erlösen – fast so wie im Märchen. Ganz ohne Zauber, aber mit Klarheit und vor allem mit Liebe. Dazu kann die Kirche viel beitragen – mit Klarheit, mit Liebe, und wenn es gut geht mit beidem gleichermaßen. 

Musik: Ralf Benschu & Jens Goldhardt „Elemente“ Tr. 5 „Feuer“ ab Beginn, bis z.B. ca. 0‘44‘‘                                                                                                                                                                 

Autorin 5:
Es geht nicht immer harmonisch zu in der Kirche, auch wenn viele sich das wünschen. Ob es um die Flüchtlings- und Europapolitik geht oder um den Umgang mit Familie, Ehe und Homosexualität – oft prallen ganz unterschiedliche Einstellungen aufeinander. Aber der Streit um die Wahrheit ist kein Unglück, sondern der Versuch, sich gemeinsam dem Zentrum zu nähern. Die Kirche ist schließlich der Ort, wo Menschen mit Bezug auf die biblischen Texte danach fragen, was heute richtig ist – und wenn es sein muss, auch darüber streiten, was heute richtig ist. Das kann vor Irrwegen schützen, die auch die Kirche gegangen ist. Im Jahr des Lutherjubiläums denke ich an den Antijudaismus der Kirche, der mitverantwortlich war für den menschenmörderischen Antisemitismus. Und weil Politik und Gesellschaft gerade heftig darüber diskutieren, wie die Teilhabe von Menschen mit Behinderung aussehen soll, denke ich an den mangelnden Schutz, den die Kirchen diesen Menschen im Dritten Reich gegeben haben – wegen des staatlichen Drucks, vielleicht aber auch wegen einer falsch verstandenen, paternalistischen Fürsorge in den diakonischen Anstalten, die ja oft draußen vor der Stadt lagen. Eine selbstkritische Kirche nimmt die eigene Verantwortung wahr und versteckt ihre Konflikte nicht. Deshalb ist Reformation auch nie erledigt, sondern immer neu auf der Tagesordnung.

Nein, es geht nicht immer harmonisch zu in der Kirche. Schließlich war es die reformatorische Wiederentdeckung des Priestertums aller Getauften, die der evangelischen Kirche ihr Profil gab. Aber ich bin überzeugt: das Engagement der Mitglieder trägt dazu bei, dass am Ende gemeinsame Wege gefunden werden – nicht nur in der Kirche, sondern auch in der Gesellschaft. Und solches Engagement trägt auch ganz praktisch. Wie die unzähligen Basis-Initiativen für Flüchtlinge – die Kleiderkammern und Deutschkurse, die Patenschaften und die vielen Familien, die minderjährige Flüchtlinge aufgenommen haben.

Musikakzent : Ralf Benschu & Jens Goldhardt „Elemente“ Tr. 5 „Feuer“ ab ca. 3‘44‘‘)

Als große Bereicherung erleben auch Ehrenamtliche selbst ihren Einsatz, das zeigt die sozialwissenschaftliche Forschung. Menschen, die sich in Gruppen engagieren, entwickeln ein überdurchschnittlich hohes Vertrauen und eine positive Grundeinstellung sich selbst, anderen – auch Fremden – gegenüber. Das Gefühl, gebraucht zu werden, gibt dem Leben Sinn. Und es macht selbst die stark, die sich sonst nur als Hilfeempfänger erleben – Menschen mit Behinderung zum Beispiel oder „Kunden“ der Tafeln. Es gibt großartige Projekte, in denen Flüchtlinge zu Museumsführern werden oder Obdachlose zu Stadtführern. Da ist das Oben und Unten, das die Gesellschaft so spaltet, wenigstens auf Zeit aufgehoben. Selbstverständlich ist das auch in der Kirche nicht. Aber hier und da wird doch ernst gemacht mit der biblischen Erkenntnis, dass auch – und vielleicht gerade – die, die als schwach gelten, eine Berufung mitbringen. Und dass jeder gebraucht wird.

Aber letztlich sind es nicht die vielen Einzelnen, die Kirche ausmachen – es ist es das aktive, gelebte Mit-Einander und Für-Andere. Gemeinsam singen und feiern, bitten, beten, Fürbitte halten für Opfer, Helfer und auch Täter und sich einsetzen für andere… Das macht eine Zusammengehörigkeit spürbar, die Grenzen überschreiten kann – Milieugrenzen, Sprachgrenzen, auch kulturelle Grenzen. Ich weiß, manche Gemeinden wirken immer noch wie eine geschlossene Gesellschaft. Man kennt sich und kommt aus ähnlichen Milieus, man fühlt sich wohl im Miteinander, als sei die Kirche ein Verein. Das hat auch mit der Trennung zwischen Kirche und Diakonie zu tun. Es sieht ja manchmal so aus, als sei für Menschen mit Problemen und in Notlagen allein die Diakonie da – für Kranke oder Pflegende, Obdachlose, für überforderte Familien oder Menschen mit Behinderung. Als gehörten diese Menschen nicht in die Gemeinden. Nur intakte Familien, nur Einheimische und Leute, die gut für sich selbst sorgen können. Aber das stimmt ja nicht – und gerade die Kirche muss sehr konkret darüber nachdenken, wie sie dieses Schubladendenken überwinden kann. Wie Nachbarschaften, Gemeinden und soziale Dienste die Teilhabe aller fördern können. Nicht nur, weil das politisch nötig ist. Sondern weil Jesus das so wollte. In den alten Hospitalkirchen konnten die Kranken in ihren Betten an Gottesdienst und Abendmahl teilnehmen und wurden damit als Teil der Gemeinde sichtbar. Heute brauchen Gemeinden neue Formen, um deutlich zu machen, dass wenigstens in der Kirche nicht die einen in der Mitte sind und die anderen nur Rand. [4]

Musikakzent: Ralf Benschu & Jens Goldhardt „Elemente“ Tr. 5 „Feuer“ z.B. ab 5‘42‘‘,

Die Ärztin Beate Jakob, die in Indien mit Basis-Gesundheitsprojekten gearbeitet hat, versteht Gemeinden als Orte des Zuhörens, wo mehr zu finden ist als praktische Hilfe. Wo zu spüren ist, dass Menschen bei einem sind, die neuen Mut und Energie geben. Und wo im gemeinsamen Gebet Gottes Geist als Kraftquelle erfahrbar ist- auch um unerwartete, neue Lösungen zu entdecken.

Sprecherin 1:
„Mein Anliegen ist, dass in Gemeinden „geschützte Räume“ entstehen. Im Englischen spricht man von „safe“ oder „sacred spaces“ und meint damit Orte, an denen sich Menschen frei und offen begegnen und austauschen können, anstatt eine Rolle spielen zu müssen. Das kann ein Gesprächsangebot sein, ein Hauskreis, ein Jugendtreff, eine Trauergruppe. Orte, wo Menschen sich nicht als stark und als „Sieger“ präsentieren müssen, sondern auch einmal ihre Masken ablegen und ihre Schwachheit und Hilfsbedürftigkeit benennen dürfen. Dadurch wächst in Gemeinden auch das Bewusstsein, nicht eine Gemeinschaft von Starken zu sein, sondern von Un-Perfekten, die alle auf Gottes Gnade angewiesen sind.“ [5]

Autorin 6:
Ein Schutzraum also. In unsicheren Zeiten können Gemeinden wie Herbergen sein, Oasen in der Wüste, wo Menschen einander begegnen, zusammen am Tisch sitzen und ihre Geschichten teilen, sich füreinander einsetzen und einander auf diese Weise ein Stück Heimat geben. In den Stadtteilläden und Vesperkirchen wird davon schon etwas spürbar. Die Theologin Dorothee Sölle beschreibt das so:

Sprecherin 2:
„Wenn ich einen Traum von der Kirche habe, so ist es der Traum von den offenen Türen gerade für die Fremden, die anders sprechen, essen, riechen. Mein Haus wünsche ich mir nicht als eine für andere unbetretbare Festung, sondern mit vielen Türen. Heimat, die wir nur für uns selbst besitzen, macht uns eng und muffig. Jeder Gast bringt etwas mit ins Haus, das wir selbst nicht haben. Heimat und Exil gehören zusammen, weil wir ganz zu Hause auch im schönsten Haus nicht sind.“[6]

Autorin 7:
In Hannover, Berlin und anderswo sind schon „Häuser der Religionen“ entstanden,- – oft sind es alte Kirchen, die damit in einem tieferen Sinne zu Orten der Begegnung wurden. Da wird gemeinsam diskutiert, auf welche Weise Traditionen, Kulturen und Werte jeweils aus den jeweiligen heiligen Texten abgeleitet werden – welche Bedeutung zum Beispiel Morgenland und Abendland für das Christentum haben.

Denn mit Religion hat nicht nur die seelsorgliche Begleitung Sterbender zu tun, sondern auch die Pflege; nicht nur das Fest der Taufe, sondern auch die Art, wie Familie gelebt wird; nicht nur das Abendmahl, sondern auch die Tafel, an der die Armen eine gute Mahlzeit bekommen. Das alles gehört zusammen, ist Ort und Ausdruck des Glaubens. Diesen Zusammenhang hat Kirche lange verdrängt. Nicht nur die Gesellschaft, auch Diakonie und Caritas haben auf Fachlichkeit und Wirtschaftlichkeit gesetzt, auf Konzepte und Zuständigkeiten. Aber die Herausforderungen, vor denen wir stehen, lassen sich nicht allein mit ausgeklügelten Konzepten und auskömmlichen Finanzierungen bewältigen. Die Menschen sind es, die den Unterschied machen. Menschen, die bereit sind, sich auf neue Wege einzulassen.

Musikakzent Ralf Benschu & Jens Goldhardt „Elemente“ Tr. 6 „Erde“, ab 3‘00‘‘

Seit einigen Jahren hängt an meinem Schlüsselbund eine Metallmarke – das Markenzeichen des Calvin College in Michigan. Das Siegel des Genfer Reformators Johannes Calvin. Eine ausgestreckte Hand mit einem brennenden Herzen. Mir zeigt das ganz deutlich: Lieber ein brennendes als ein Herz aus Stein! Es ist merk-würdig, beide Reformatoren – Calvin wie Luther – haben ein Herz in ihrem Wappen. „Ich schenke euch ein neues Herz und lege meinen neuen Geist in Euch“ lautet auch die Jahreslosung für 2017. Sie passt zum Reformationsjahr. Und rund um Calvins Siegel läuft der passende Wahlspruch: „Cor meum tibi offero domine, prompte et sincere – ich schenke Dir mein Herz, Gott, entschieden und aufrichtig.“.

Nimm dein Herz in die Hand! Und tausche Angst gegen Lebendigkeit. Misstrauen gegen Gemeinsinn. Dieses Gottvertrauen ist das wichtigste, was die Kirche zum gesellschaftlichen Wandel beitragen kann. Oder besser: Was jeder und jede von uns dazu beitragen kann.

Schlussmusik Ralf Benschu & Jens Goldhardt „Wolke 7“ Tr. 9 „Luisa auf Wolke 7“ ab Beginn (ab 20‘ Sendelänge freistehend bis Ende, mind. für ca. 3‘),

[1] Hesekiel 36, 26
[2]  Ernst Lange, Sprachschule für die Freiheit, Bildung als Problem und Funktion der Kirche, München 1980, S. 155
[3]  E. Lange an Hans Jürgen Schultz, 31.7.1974 in : Werner Simpfendörfer, Ernst Lange, Versuch eines Porträts, Berlin 1997
[4] Gute Beispiele finden sich in: Cornelia Coenen-Marx „ Aufbrüche in Umbrüchen – Christsein und Kirche in der Transformation“, Göttingen 2016
[5] www.seele-und-sorge.de / Pilgerorte-Blog
[6] [6] Dorothee Sölle, Mutanfälle, Hamburg 1994

SR2 Kulturradio „Lebenszeichen“
vom 22.10.2016, 
10.55 bis 11 Uhr

Berufung

Der Berliner Jesuitenpartner Christian Herwartz hat die Stadtexerzitien entwickelt. Kleine Gruppen entdecken dabei Pilgerwege durch unbekannte Stadtlandschaften – über Straßen und Plätze, die den allermeisten im Alltag verschlossen bleiben.[1] Angeleitet von wohnungslosen Stadtführern pilgern die Gruppen zum Beispiel am Gefängnis oder an der Notunterkunft für Wohnungslose vorbei. Sie nehmen sich Zeit, in den Schuhen von anderen zu gehen, deren Gefühlen zu folgen, verschütteten Erinnerungen. „Vielleicht“, sagt Christian Herwartz, „vielleicht entdeckt jemand auf diesem Weg Gott, mitten in Stadt.“ An der Notaufnahme des Krankenhauses, in der Flüchtlingsunterkunft. Oder auf dem Spielplatz, auf dem noch Bierflaschen und Kondome vom Vorabend liegen. Manchmal beginnt ein Ort zu sprechen, erzählt eine Geschichte. Wer spürt, wie sein Herz brennt, bleibt stehen, zieht die Schuhe aus und hört auf die Stimme.

So, wie Mose es einst ergangen ist. „Zieh Deine Schuhe aus. Denn der Boden auf dem Du stehst, ist heiliges Land“. Die Stimme, die damals zu Mose sprach kam aus einem brennenden Dornbusch. Und sich hat sich in Moses Herz eingebrannt. Es war, als riefe jemand seinen Namen- er fühlte sich wie magisch angezogen. Die Bibel erzählt, dass Mose der Stimme folgte, dass er die Schuhe auszog und sein Gesicht in einem Tuch verhüllte. Am liebsten hätte er sich wohl verkrochen. Er, der Rebell. Der einen Mann erschlagen hatte; einen der Aufseher beim Bau der Pyramiden. Es war einfach unerträglich für Mose, wie man dort mit den hebräischen Sklaven umging. Schließlich war er selbst Hebräer. Und nun, mitten in der Wüste, wo er sich eigentlich in Sicherheit gewähnt hatte, war das alles plötzlich wieder da. „Ich habe das Schreien der Israeliten gehört und ich habe gesehen, wie sie von den Ägyptern unterdrückt werden“, sagte die Stimme aus dem Dornbusch. Und: „Du sollst mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten führen.“

Vielleicht kennen Sie diese Erfahrung. Dass da plötzlich Erinnerungen wieder hoch kommen. So stark und mächtig, dass man die Wirklichkeit ganz anders wahrnimmt: brutaler, intensiver, tiefer. So etwas passiert bei einer Begegnung, die uns erschüttert, bei einem großen Umbruch in Politik und Gesellschaft. Es ist dann, als fiele ein anderes Licht auf unser Leben, als öffne sich ein weiter Horizont. Wir hören auf, uns um uns selbst zu drehen.[2] „Du wirst gebraucht“, sagt eine Stimme „genau Du“. Ausweichen gilt nicht.

Veronika Scott hat das erlebt. Die Amerikanerin hat einen Mantelschlafsack erfunden. Tagsüber ein Mantel und nachts ein Schlafsack gibt er Obdachlosen im Winter Wärme und auch ein Stück Würde. Der Mantel ist wasserdicht und lässt sich im Sommer zu einer Umhängetasche zusammenfalten. Die 100 Dollar, die ein Mantel kostet, werden durch Spenden finanziert. 15.000 Mäntel konnten inzwischen hergestellt werden. Und zwar durch wohnungslose Frauen, die damit Geld verdienen und sich so eine Wohnung mieten und ihre Kinder wieder zur Schule schicken können.

Veronika Scott konnte einfach nicht wegsehen, als sie eines Tages ein Mädchen im Schlafsack unter der Brücke sah. Sie wusste, wie sich das anfühlt; vor Jahren hatte sie selbst mit ihrer Mutter auf der Straße gelebt. Und sie wusste, wie schnell das gehen kann, wenn man seinen Job verliert. Zumal in den USA, wo das Sozialsystem nicht so ausgebaut ist wie in Deutschland. Aber auch hier landen Menschen in der Obdachlosigkeit. Einige von ihnen werden nun in Berlin zu Stadtführern auf den Pilgerwegen. Mit ihnen entdecken manche Menschen den brennenden Dornbusch mitten in der Wüste der Stadt.

[1] Ursula Richard, Stille in der Stadt, München 2011, S. 106 ff.
[2] Vgl. Die lebensverändernde Kraft von Krisen, Kathleen Mc Gowan, Psychologie heute-
Kompakt – ziemlich stark. S. 18 ff.

SR2 vom 30.07.2016

„Ich bin dann mal weg“.

„Ich bin dann mal weg“. Der kleine Satz, ganz lässig dahin geworfen, ist zum geflügelten Wort geworden, seit Hape Kerkeling sein Buch über den Jakobsweg schrieb. Kurz vor dem Urlaub, wenn es Zeit ist, mal wieder Abstand zu gewinnen, kann man ihn besonders oft hören. Manche sehnen sich einfach nach Sonne. Andere machen eine lange Radtour oder arbeiten auf der Alp. Und einige gehen ein Stück auf dem Jakobsweg. Jetzt ist die Zeit, sich einen Traum zu erfüllen. Der eigenen Sehnsucht nachzuspüren oder sich einfach zu fragen, wohin wir eigentlich unterwegs sind. Auf dem Jakobsweg und in unserem Alltag.

Der Weg nach Santiago geht auf Jakob, den Jünger Jesu zurück. Aber auch der Jakob des Alten Testaments kann uns ein Beispiel sein. Die Vätergeschichten der Bibel erzählen von dem Zweitgeborenen Jakob, der seinem Zwillingsbruder Esau das Erbe abluchste –und seinem Vater Isaak den Segen. Ein junger Mann, voller Hunger nach Leben, dem jedes Mittel Recht scheint, um zu bekommen, was das Schicksal ihm verweigert: Land und Herden, die dem Erstgeborenen zustehen, eine große Familie und viele Nachkommen, eben Erfolg und Segen. Der Schwindel fliegt auf und Jakob muss fliehen. Er kämpft sich durch die Widrigkeiten der kommenden Jahre und es gelingt ihm tatsächlich, sich nach und nach den Reichtum aufzubauen, von dem er geträumt hat – am Ende scheint es, als hätte er gewonnen, was er sich erschlichen hatte: Glück und Segen. Als stünde ihm der Himmel offen. Wie in dem Traum von der Himmelsleiter, den er auf der Flucht geträumt hatte.

Aber das ist nicht das Ende der Geschichte. Denn die Bibel lässt uns diesem Jakob noch einmal begegnen – gegen Ende seines Lebens. Da ist er auf dem Weg zurück nach Hause. Er kehrt heim, um sich mit seinem Bruder zu versöhnen. Seine Herden, seine Frauen und Kinder hat er zurück gelassen; er ist allein, als er nachts den Fluss Jabbok durchwatet und um sein Leben kämpft. Eine unbekannte Macht will ihn niederringen – als hätten sich all seine äußeren und inneren Feinde vereint. Noch einmal geht es um den Segen- um Erfolg und Misserfolg. Um Betrug und Integrität. Um den Sinn seines Ringens, seines Weges. Am Ende ist Jakob verletzt – er hinkt, aber er geht der Sonne entgegen. Nach all den Wandlungen ist er endgültig ein anderer geworden oder in einem tieferen Sinne er selbst: von jetzt an trägt er den Namen Israel.

Wenn Sie einmal am Ende Ihres Lebens stehen- Was möchten Sie dann erreicht haben? Das wurde ich kürzlich in einem Interview gefragt. Welche Träume habe ich noch, welche Wünsche will ich mir erfüllen? Da fiel mir Hildegard von Bingen ein, die gegen Ende Ihres Lebens eine ungewöhnliche Entscheidung getroffen hat. Sie verließ das Kloster, in dessen Aufbau sie ihr ganzes Leben investiert hat, verließ den Konvent und ihre Rolle als Äbtissin und brach zu Pferd auf eine Seelsorgereise auf. Allein- nur von wenigen Freunden begleitet. Vielleicht besteht die Herausforderung des Älterwerdens genau darin, loszulassen, was wir erarbeitet haben, und noch einmal frei zu werden. So frei wie Jakob, als er alles, was er hat, zurücklässt und ganz allein durch den Fluss geht.

Jakobs Weg ist ein Symbol für unsere Lebensreise. Wir werden herausgerufen aus dem Gewohnten, müssen Prüfungen und Kämpfe bestehen, haben Erfolge – und dann treten wir mit allem, was wir gewonnen haben, den Rückweg an und müssen noch einmal eine Schwelle überschreiten – jetzt zählt nicht mehr, was wir erarbeitet haben, sondern, was wir geworden sind. Alle, die jetzt auf dem Weg nach Santiago sind, und auch die, die anderswo pilgern, spüren dem nach.

Unser Leben ist eine Reise – durch manche Dunkelheiten dem Licht entgegen. Jetzt im Sommer, wenn viele aufbrechen, wird diese Sehnsucht besonders spürbar. Einfach aufbrechen und loslassen, was uns hindert, zum Ziel zu kommen. Wer wollte das nicht? Ich bin dann mal weg.


WDR 5: Sonntag, 28.8.2016, 8.35 Uhr

„Dritte“ Lebenshälfte

„Schön. Jetzt ist die Zeit, wesentlich zu werden“, sagt meine Freundin. Sie hat gerade ihren 63. Geburtstag gefeiert. Als Geburtstagsgeschenk hat sie ein Zeitschriftenabo bekommen. Eine Frauenzeitschrift für die Frau ab 60. Es gibt immer mehr Magazine, die Lust auf die so genannte „dritte“ Lebenshälfte machen – diese geschenkte Zeit, in der wir uns gesund genug fühlen, um noch einmal aufzubrechen. Alter und Gebrechlichkeit – sie scheinen noch weit entfernt. Die Sixties sind interessant geworden – nicht nur für Reiseunternehmen, Architekten und Stadtplaner oder für die Mode- und Kosmetikindustrie. Sondern auch für die Gesellschaft.
Power-Ager nennt man sie auch, diese Generation 60plus. Denn sie sind kraftvoll. Tragen soziale Initiativen und Start up-Unternehmen. Sie machen sich auf die Reise, arbeiten im Ausland als Au pair oder Seniorenberater. Oder entdecken neue Welten im eigenen Land. Sie engagieren sich in der Flüchtlingsarbeit, lernen Menschen aus anderen Ländern und Milieus kennen oder knüpfen neue Netze in der Nachbarschaft – als „Leih-Omas“, Stadtteilmütter oder Mentoren für Schüler, in Familienzentren und Generationenhäusern. Und beinahe zufällig entstehen neue Freundschaften.
„Im Alter neu werden “ – das ist kein frommer Wunsch. Das geht wirklich.

„Im Alter neu werden können“ – so hat die Evangelische Kirche in Deutschland eine Denkschrift zum Thema Altern genannt, die sie vor einigen Jahren herausgegeben hat. (1) Es geht darum, wie das Altern gelingen kann. Was ich selbst tun kann, das Alter aktiv zu gestalten. Wer noch ein Drittel des Lebens vor sich hat, der will nicht nur über Seniorenwohnen und Pflegedienste nachdenken und sich mit Testament und Patientenverfügung auseinander setzen – der will Energie schöpfen für eine neue, spannende und herausfordernde Lebensphase. Und diese Energie, die schöpfen manche aus ihrer Spiritualität. Viele denken, Religion habe es vor allem mit Tod und Sterben zu tun und schieben das Thema erst mal weit weg. Nach dem Motto: Kirche, das ist was für alte Leute- und älter werden wir später. Mag sein, dass die Kirche selbst zu dieser Vorstellung beigetragen hat. Jetzt aber lernt sie von den jungen Alten: Das Alter ist auch eine Art Geburt.

„Kann man denn im Alter noch einmal neu geboren werden?“ Diese Frage treibt Nikodemus um. Er ist ein hoher jüdischer Würdenträger. Heimlich besucht er Jesus in der Nacht, weil die Frage ihm peinlich ist – und doch nicht loslässt. Und Jesus antwortet: „Ja, man kann im Alter noch einmal neu geboren werden.“ Er spricht vom Neuanfang aus dem Geist Gottes.

Und tatsächlich ist die Bibel voll von solchen Neuanfängen. Wahrscheinlich kennen Sie die Geschichte von Abraham und Sara, die in hohem Alter aufbrechen in das Gelobte Land und spät noch den ersehnten Sohn zur Welt bringen – so spät, dass Sara schon allein den Gedanken an eine Schwangerschaft lächerlich findet. 127 Jahre soll sie alt geworden sein – ein legendäres Alter. Aber die Zahl der über 100–Jährigen wächst heute.

Die Geschichte von Sara ist also gar nicht so unwahrscheinlich – es gibt sie, die alternden Frauen, die im Aufbruch noch einmal jung werden. Einem Traum geht Sara nach mit ihrem Abraham. Nachts unter dem Sternenhimmel hat Gott ihm versprochen, dass sie eine neue, eine bessere Zukunft finden würden – und dass ihre Nachkommen so zahlreich sein würden wie die Sterne am Himmel. Dieses Glitzern und Leuchten und Aufblitzen eines neuen Lebens – das hat Sara nie vergessen. Selbstverständlich ist es nicht, dass einer seinen Träumen folgt. Sich auf den Weg macht Schritt für Schritt. Es muss ein schwerer Weg gewesen sein durch die Wüste. Voll Fremdheitserfahrungen, Misstrauen und der Angst, allein gelassen zu werden, zu versagen und sich lächerlich zu machen. Aber Sara hat dem Unwahrscheinlichen eine Chance gegeben. Sie hat Gott eine Chance gegeben.

Wenn ich etwas ganz Neues beginne, dann muss ich mein Leben so einrichten, dass ich meinen Traum auch verwirklichen kann. Das wurde dem französischen Soziologen Roland Barthes klar, als seine Mutter gestorben war. Bei aller Trauer des Abschieds – in diesem Augenblick begann für ihn ein neues Leben. Er wollte endlich tun, was ihm längst vorschwebte – er wollte einen Roman schreiben. Aber das neue Leben beginnt nicht einfach von selbst; es braucht einen bewussten Entschluss. Man muss den Alltagstrott verlassen, die eigenen Routinen überprüfen. Dem eigenen Leben einen neuen, grundlegenden Inhalt geben. Ich muss innehalten, meine Erfahrungen reflektieren und meinen Hoffnungen trauen.

Es ist kein Zufall, dass viele beim Start in die dritte Lebensphase eine Reise unternehmen oder ein Buch schreiben. Das sind Möglichkeiten, die innere Bewegung im Außen sichtbar und greifbar zu machen. Produktiv zu werden jenseits der sonst üblichen Vorstellungen von Produktivität. Jetzt muss ich nicht mehr effizient sein wie im Beruf oder funktionieren wie in der Familie. In der ersten Lebenshälfte geht es noch darum, ein Heim und eine Familie aufzubauen, ein sicheres Fundament für das Leben. Dann aber besteht die Herausforderung darin, das alles loszulassen und noch einmal frei zu werden. Wer jetzt noch einmal neu startet, will eine andere Produktivität entdecken. Ein neues Lebenstempo, eine andere Kultur, eine Kunst vielleicht, die er bisher nicht beherrscht hat. Vielleicht auch sich einsetzen, damit es anderen gut geht. Wesentlich werden – aber nicht einfach auf den bekannten Kern schrumpfen, sondern einem neuen Samen Raum zum Leben geben. Und dabei kann die Religion, kann die Spiritualität helfen. Lars Tornstam, der in Schweden Untersuchungen zur Spiritualität älterer Menschen durchgeführt hat, spricht von Ego-Transzendenz oder auch von Gero-, also Alters-Transzendenz. Er meint: Das Alter bietet die Chance, sich selbst zu überschreiten. Transzendenz hat es nicht nur mit dem Jenseits zu tun; vielmehr geht es darum, mich grundsätzlich offen zu halten für ganz neue Möglichkeiten.

Klar, dazu gehört die bewusste Auseinandersetzung mit meiner eigenen Begrenztheit und Endlichkeit – nicht erst am Ende des Lebens: Denn wenn ich Angst habe, mich zu verlieren, kann ich weder lieben noch Kinder in die Welt setzen noch überhaupt etwas Neues beginnen. Und am Ende auch nicht sterben. Das Thema Sterblichkeit geht also immer mit.

Wer die Frage nach dem Ende einfach in die so genannte vierte Lebensphase verschiebt, tut sich selbst nichts Gutes. Zu erkennen: Mein Leben ist endlich – und sinnvoll. Mein Leben ist begrenzt – und erfüllt, das lässt uns wesentlich werden. Das ist der wirkliche Gewinn des Alterns. Und das gilt am Ende auch für die vierte Lebensphase, die so genannte Hochaltrigkeit. Eine Studie der Universität Heidelberg zeigt: Bei mehr als Dreiviertel der Befragten zwischen 80 und 99 steht die Todesnähe nicht im Vordergrund. Die meisten freuen sich, wenn sie sich noch für andere Menschen engagieren können und sie beschäftigen sich intensiv mit den Lebenswegen der nachfolgenden Generation – der Enkel und Urenkel zum Beispiel.

Ich erinnere mich daran, wie meine Urgroßtante Hulda auf mich aufpasste, wenn meine Eltern abends unterwegs waren. Sie saß dann mit ihren steifen Beinen – sie hatte Arthritis – auf einem Bänkchen vor meinem Bett und las oder sang mir vor. An einem Abend rutschte sie von diesem Bänkchen herunter und blieb auf dem Boden sitzen – und ich war zu klein, ihr wieder aufzuhelfen. Aber sie hatte Humor. Sie sang auf dem Fußboden das Gesangbuch von vorn bis hinten durch – und ich genoss es. Urgroßtante Huldas Gelassenheit und ihr Gottvertrauen haben mich lange über ihren Tod hinaus getragen. Und als sie mit weit über 80 starb, lag mein nächstes Weihnachtsgeschenk von ihr schon bereit. Für mich ist Tante Hulda ein Beispiel dafür, wie Religion über die Generationen weitergegeben wird – ganz selbstverständlich, als Lebenserfahrung im Alltag und zumeist von den Älteren zu den Jüngeren.

Der ehemalige Chefredakteur der Zeitschrift „Psychologie heute“, Heiko Ernst, spricht in diesem Zusammenhang von Generativität. Normalerweise wird der Begriff verwandt, wenn es darum geht, Kinder in die Welt zu setzen – die nächste Generation. Für Heiko Ernst geht es aber um mehr: um das Weitergeben von Erfahrung, die Sorge um die Zukunft. Generativität sei „unser Zukunftssinn“, sagt er. “Wir richten das Denken über die eigene Existenz hinaus. Generativität ist die Fähigkeit, von sich selbst abzusehen, für andere da zu sein und damit die Zukunft zu gestalten.“ (2) Das hängt nicht davon ab, ob wir eigene Kinder in die Welt gebracht haben so wie Sara, die spät noch Mutter wurde.

Ich habe neulich von einer älteren Frau geträumt, die eine große Grünlilie umpflanzte – in viele kleine Blumentöpfchen. Sie wollte die Pflänzchen zu ihrem 80. Geburtstag verschenken – etwas aus ihrem Haus für alle, die ihr lieb sind. Lebendiges Erbe – Sie wissen, Grünlilien schlagen Luftwurzeln und lassen sich ganz leicht in neue Erde verpflanzen. Das ist es dachte ich, was jetzt dran ist: loslassen und weitergeben, damit aus dem Alten Neues wächst auf der neuen Erde.

Abrahams und Saras Kraft zum Aufbruch war so stark, dass sie nicht zurück wollten in die alte Heimat. Als Sara starb, kaufte Abraham ihr ein Grab im neuen Land – es war das erste eigene Stück Boden, auf das die Kinder und Enkel ihre Füße setzten. So wurde ihr Traum von einem neuen Anfang Realität für viele, die nach ihr kamen. Sarah hatte ihr Ziel erreicht. Während ich das sage, merke ich: Es ist gar nicht mehr so selbstverständlich, von einem Lebensziel zu sprechen. Aber auch heute verstehen viele das Leben als Reise.

Aber was hilft mir, mein Ziel im Auge zu behalten? Als für mich selbst die dritte Lebensphase begann, fiel mir ein Buch mit geistlichen Übungen in die Hand. (3) Es geht um die Offenheit für Gottes Nähe, um die Erfahrung des Einswerdens mit mir selbst, das Ja- Sagen zum Leben. Aber auch um die Gefühle, die uns voneinander und von uns selbst entfremden. Hass, Angst, Wut, Neid und Zweifel schneiden uns von unserer Wesensmitte ab. Wir merken das, wenn unser Alltag sich leblos anfühlt.

Eine der Möglichkeiten, mich zu zentrieren und Gelassenheit und Frieden zu finden, ist das orthodoxe Herzensgebet. Es geht dabei nicht um viele Worte. Schon eine einfache Gebetsformel reicht. Zum Beispiel „Liebe umgibt mich“. Diese Form des Gebets hat viel gemeinsam mit der mystischen Versenkung im Buddhismus. Hier wie da geht es um die Konzentration auf den Atemrhythmus, um Gesten und Gehen. Das kann ich im Alltag üben – beim Aufwachen und Einschlafen wie auch in Pausenzeiten am Bus oder auf dem Fahrrad. Dabei kann ich fühlen, dass Gott mir nah ist.

Auf dem Weg ins Unbekannte ist es gut, sich einfach aus der Erfahrung der Gottesnähe führen zu lassen. (4) Wie Abraham und Sara, die sich im Alter noch einmal aufmachten, um ihrer Hoffnung zu folgen. Ohne zu wissen, wo das gelobte Land lag. Auf ihrem Weg durch die Wüste haben sie Angst und Zweifel reichlich erlebt. Ob Sara in solchen Situationen zu den Sternen gesehen hat? Oder lieber in das Gesicht ihres Sohnes? Manches, was jetzt noch unglaublich scheint, hat vielleicht morgen schon Hand und Fuß. Nehmen Sie sich ruhig ab und an Zeit, Ihre Sterne zu zählen- ich mache das auch. Das wünscht Ihnen Ihre Cornelia Coenen-Marx von der evangelischen Kirche.

(1) Im Alter neu werden können. Evangelische Perspektiven für Individuum, Gesellschaft und Kirche. Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD, 2010, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05912-9 .
(2) Heiko Ernst in Psychologie heute, compact, 9/2003.
(3) Sabine Bobert, Mystik und Coaching, Münsterschwarzbach 2011.
(4) Was das in den aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen bedeutet, darum geht es in meinem neuen Buch: Cornelia Coenen-Marx: „Aufbrüche in Umbrüchen, Christsein und Glaube in der Transformation“ , Göttingen 2016, ISBN 978- 38469- 0252-3.

WDR 5: Freitag, 26.8.2016, 6.35 Uhr

Hamster deutschlandweit restlos vergriffen

„Hamster deutschlandweit restlos vergriffen“ titelte das Satiremagazin „Der Postillion“ Anfang der Woche. Da hatten die Medien gemeldet, dass die Bundesregierung das Zivilschutzkonzept neu auflegt und Bürgern rät, sich Vorräte für den Notfall anzulegen. Innerhalb weniger Stunden, so „Der Postillion“, hätten besorgte Menschen sämtliche Hamster in deutschen Zoohandlungen aufgekauft. „Die Leute sind unsicher, wie viele Hamster man für 10 Tage braucht“, wird ein Zoohändler zitiert – schließlich waren Hamsterkäufe in Deutschland schon länger nicht mehr nötig.

Als Kind der 50er Jahre kenne ich noch Vorratskeller. Damals war es selbstverständlich, genügend Wasser, Reis und Gries, Konserven und Knäckebrot im Haus zu haben – auch Aspirin und etwas Bargeld. Und Kerzen natürlich, wenn der Strom ausfällt. Als meine Schwestern an die Ostküste der USA zogen, habe ich erlebt, wie sinnvoll das ist. Auch für die ganz normalen Katastrophen: für Schnee- und Wirbelstürme oder für den Fall, dass ein Baum auf die Stromleitung fällt.

Es ist gar nicht schlecht, sich gelegentlich daran zu erinnern, dass das scheinbar Selbstverständliche nicht selbstverständlich ist. Trotzdem war die Aufregung in dieser Woche groß. Katastrophenschutz? Terrorgefahr? Sind wir denn so bedroht, dass man über Hamsterkäufe nachdenken muss? Die Opposition spricht von Angstmache und Panikstimmung.

Aber die meisten Bürgerinnen und Bürger blieben gelassen. Wir fühlen uns doch ziemlich sicher in diesem Land. Und in der Regel funktioniert ja alles. Allerdings ist es nicht mehr schwer, sich andere Szenarien vorzustellen. Die Finanzkrise in Griechenland, der Amoklauf in München – die Bilder liegen schon in unseren Köpfen bereit. Stillstehende U-Bahnen, Schlangen vor Geldautomaten, ausverkaufte Supermärkte und Kühlschränke, in denen die Ware ungenießbar wird. Mangel in einem reichen Land. Was gäbe man da für einen Kleingarten.

Die Bibel erzählt von einer Dürreperiode in Phönizien. Ein Jahr ohne Regen, das Korn trug nicht, die Tiere starben, die Vorräte waren knapp geworden. Besonders für die Armen. Da gab es eine Witwe in Zarpat, die kurz vor dem Verhungern war. Sie hatte kaum noch Öl und Mehl für sich und ihren einzigen Sohn, als ein Fremder sie ansprach. Er bat nur um das Nötigste. Aber kann man Hilfe erwarten, wenn der andere selbst nicht weiß, wie er überleben soll? Das mutet der Fremde ihr zu. Sie soll ihm ein Fladenbrot backen. Das letzte, was sie hat, soll sie nun auch noch teilen. „Hab keine Angst“, sagt er, “mein Gott, der Gott Israels, hat es versprochen: ‚Der Mehltopf wird nicht leer und das Öl im Krug versiegt nicht, bis ich es wieder regnen lasse.'“

Und die Verheißung des Fremden erfüllt sich. Es ist übrigens der Prophet Elia. Die Witwe vertraut ihm und teilt. Und das Teilen wirkt Wunder. Vielleicht ist es das einzig Vernünftige, wenn es ums Überleben geht. In Rumänien und in Palästina und im Sudan habe ich solche Gastfreundschaft erlebt. Vielleicht, weil die Menschen dort wissen, dass sie aufeinander angewiesen sind. Es ist nicht nur egoistisch, es ist kurzsichtig, nur für sich selbst zu sorgen. Vertrauen ist am Ende doch stärker als die Angst, die sammelt und hortet. Das ist eine zentrale Botschaft der Bibel. Und die Geschichte vom reichen Kornbauern erzählt, wie dieser vor seinen vollen Scheunen stand und glaubte, nun könne ihm nichts mehr passieren. Aber sein Reichtum nutzte nichts. Und Vorräte geben nur begrenzt Sicherheit.

Sollen wir also keine Vorräte anlegen? Zivilschutzgesetz hin oder her? Ich denke, es kommt auf die Haltung an. Immer genug Wasser im Haus zu haben, Knäckebrot und ein paar Konserven – das ist vernünftig. Aber ich weiß, dass unser Leben nicht daran hängt. Und ich mag es, wie gelassen der Humor mit dem Thema umgeht. Auf Facebook hat ein Freund ein Foto von seinen Vorräten gemacht: 10 Nutelladosen für die ganze Familie.

Was steht auf Ihrer Einkaufsliste? Wenn Sie mit mir sprechen wollen – Sie erreichen mich bis 8 Uhr unter der Telefonnummer 030 – 325 321 344. Oder diskutieren Sie mit auf Facebook unter ‚deutschlandradio.evangelisch‘.


DLF: 26. Juni.2016,  8.35 – 8.50 Uhr

Von Seelenlust und Körperzeichen – Was Leib und Seele zusammenhält

Udo Lindenberg feiert das Überleben. „ Stärker als die Zeit“, wie der Titel seines neuen Albums, scheint auch sein Körper zu sein. Ein Stehaufmännchen wie Udo selbst. Mir gefällt es, wie er hier innehält und auf seinen Körper sieht – auf dessen Kraft und wunderbare Widerstandsfähigkeit. Und auch darauf, was er seinem Körper so alles angetan hat. Es gefällt mir – und ich kann es nachvollziehen. Ich bin zwar kein Feiervogel, der die Exzesse liebt, aber ein Feuervogel bin ich schon- ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man an beiden Seiten brennt. Und alle Ressourcen ausbeutet. Stress, zu wenig Schlaf, trotzdem weitermachen mit Kaffee und Kopfschmerztablette- das kenne ich auch.

Irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo die Gesundheit nicht mehr mitmacht. Wenn und solange unser Körper funktioniert, solange die Energie reicht, denken wir nicht viel darüber nach. Gesundheit sei ‚das selbstvergessene Weggegebensein an das Leben‘, hat der Philosoph Hans-Georg Gadamer gesagt. Stimmt – erst wenn die ersten „Warnsignale des Körpers “[1] sich bemerkbar machen, wenn der Druck steigt und das Herz rast, dann spüren wir, dass unser Leib mehr ist als ein jederzeit verfügbares InstrumentDer mittelalterliche Theologe Thomas von Aquin spricht von der verleiblichten Seele. Auch unsere Sprache kennt diesen Gedanken: es läuft uns etwas über die Leber, es bricht uns das Herz.

Für die Personaltrainerin Andrea Lautenbach gibt es Wege, die krank machen, und es gibt Wege, die gesund machen. Sie hat sich mit dem Konzept der Salutogenese beschäftigt. Statt nur auf die Krankheits- und Leidensgeschichten zu schauen, achtet die Salutogenese auf die gesunden Anteile: Gesundheit und Krankheit sind kein Entweder- Oder, sondern ein Kontinuum. Wir haben gesunde und kranke Anteile, solange wir leben – auch noch im Sterben gilt das. Was hilft, gesund zu bleiben oder wieder gesund zu werden ist das Gefühl von Kohärenz: verstehen, was mit uns geschieht; das Gefühl haben, Leid und Krankheit bewältigen zu können und schließlich einen Sinn darin sehen. Wie gesund wir uns fühlen, das hat also auch mit unseren Beziehungen zu tun. Auch mit der Beziehung zu unserem eigenen Körper.

Unser Körper kann uns helfen, achtsam mit unserer Gesundheit umzugehen, sagt Personaltrainerin Andrea Lautenbach:

„Entscheidend ist die innere Einstellung, dass mein Körper mein Freund ist und nicht mein Feind. Wenn Leib und Seele zusammenarbeiten, entstehen Synergieeffekte. Denn Emotionen sind ja erst durch den Körper erfahrbar- schließlich haben wir unsere fünf Sinne dafür bekommen, das Leben zu erfühlen. Leider denken, entscheiden und handeln wir nur oft an unseren Bedürfnissen vorbei.“

Über die Körperarbeit fühlen wir, was uns gut tut: Wenn wir uns entspannen und beweglicher werden, kann auch die Seele aufatmen. Es gibt Halt und Stabilität, wenn wir in unserem Körper zu Hause sind.

Ich bin mein Leib. Mein Gang, meine Haltung, meine Verletzungen und Schmerzen erzählen von meiner Lebensgeschichte, von meiner Stimmung. Wir kommunizieren über unseren Körper, wir präsentieren uns damit – kein Wunder, dass manche ihn wie ein Objekt behandeln, um die eigenen Chancen zu verbessern- ihn optimieren, trainieren, aufhübschen . Ariadne von Schirach[2] erzählt in ihrem Buch „Du sollst nicht funktionieren“ von den Hungermädchen, die den Models nacheifern, von Stresskörpern und Fitnessleibern und von den Best Agern, die das Älterwerden wie eine lästige Krankheit verdrängen. Wir fliehen vor der Endlichkeit, sagt sie, dabei wäre es besser, sich den Leib zum Verbündeten zu machen, – auch wenn er Macken hat oder uns scheinbar zur Unzeit eine Krankheit präsentiert. Unser Body meint es gut mit uns- allerdings dauert es meist eine Weile, bis wir das begreifen. Eine Trainerin wie Andrea Lautenbach kann dabei hilfreich sein. Mir hat sie neu bewusst gemacht: Der Weg ins Gegenwärtig-Sein führt über den Körper. Unsere Körpersinne- Sehen und Hören, Schmecken und Fühlen sind zuverlässige Begleiter in die Wirklichkeit. Und auch im Atmen, Sitzen, Gehen spüren wir Präsenz – ein Einssein mit dem Leben.

Ey, mein Body, Du und ich
Hey, wir lassen uns nicht im Stich!
Und sind die Zeiten auch manchmal hart
Wir bleiben lange noch am Start!
Mein Körper, Du und ich
Sowas wird’s nie wieder geben
Weißt Du, was wir beide sind?
Wir sind die Meister im Überleben!

Ohne Selbstsorge kann auch die Sorge für andere auf Dauer nicht gelingen. Paradoxerweise ist das gerade in der Gesundheitsbranche besonders schwer. Wie andere Dienstleistungsbereiche auch leiden Krankenhäuser und Pflegedienste in besonderer Weise unter Kostendruck. Die Zeit, in der Dienstleistung das teuerste Gut, wird knapp. Wer aber Hilfebedürftige nur noch ein kleines Stück auf dem Weg begleiten kann und nicht mehr sieht, wie es weiter geht, wer sich immer neu einlassen und schnell wieder abgeben muss, verliert das Kostbarste, was diese Berufe ausmacht: die Erfahrung heilender Begegnungen. Wer einen anderen berührt, rührt ja immer auch an Erfahrungen, die sich tief in den Körper eingeprägt haben. Dass wir kranke und sterbende Menschen im wahrsten Sinne des Wortes behandeln, das hat natürlich auch mit der Vorstellung des beseelten Leibes zu tun. Ganz besonders deutlich wird das in der Sterbebegleitung. Ehrenamtlich Engagierte im Hospiz erleben, dass Menschen sich entspannen, wenn jemand ihre Hand hält, und noch einmal aufblühen, wenn sie sich auf etwas oder auf jemanden freuen können.

„Es sind manchmal so simple, kleine Dinge. Es kann ein Eis sein; einer Dame habe ich Erdbeeren mitgebracht, als sie schon im Sterben lag. Aber noch einmal Erdbeeren zu essen, das war eine ganz wichtige Geschichte. Ihr hat das diesen letzten Weg erleichtert…“ sagt Martin Quel vom Hospizdienst Pusteblume. Er erzählt aber auch, wie wichtig es sei, einfach da zu sein und es mit dem anderen auszuhalten. „Dass jemand weiß, da sitzt einer und der ist jetzt einfach nur da – das ist eine ganz wichtige, beruhigende Situation.“ ( 26, 11)

„Wie ich berühre, so bin ich berührt“[3] – aber wenn ich niemanden mehr wirklich begleiten und begegnen kann, werde ich auch selbst kälter und distanzierter, nehme auch den eigenen Körper kaum noch wahr. Oder ist es umgekehrt- weil ich mich selbst vor Überforderung kaum noch spüre, kann ich mich auch nicht mehr in andere einfühlen? Jedenfalls haben die Ehrenamtlichen auch die Beobachtung gemacht – dass Pflegende oft kaum die Zeit und Kraft haben, ganz da zu sein für den Patienten. Martin Quel fordert:

Martin Quel: „Wir brauchen mehr Mitarbeiter in der Pflege – dann nehmen sie den Einzelnen auch anders wahr. Es kann nicht sein, dass da zwei Mitarbeiter mit zwanzig/dreißig Bewohnern auf der Station alleine sind“. ( 34)

Manchmal werde ich gefragt, ob es für Kirche und Diakonie nicht an der Zeit wäre, unter diesen Umständen aus dem Gesundheitsmarkt auszusteigen. Dann denke ich an Theodor Fliedner, den Gründer der Kaiserswerther Diakonie. Der hatte damals klare Kriterien, wann er seine Diakonissen aus einem Krankenhaus zurückzog. Es ging ihm um Qualität und Ethik der Pflege, um gute Versorgung und medizinische Behandlung. Und genau deswegen ging es ihm auch um die Gesundheit der Schwestern, darum, dass sie Zeit genug zur Erholung hatten. Eine Studie über die Kraftquellen von Pflegenden zeigt auch heute: Was für Pflegebedürftige wichtig ist, das brauchen die Pflegenden auch. Tragfähige Netze, Zeit für Zuwendung und Orte, an denen man Kraft schöpfen kann. Und Rückzugszeiten, um Prioritäten zu klären, sich vielleicht auch neu zu orientieren. „Einkehrtage“ nannte man das in der Diakonissentradition. „Auftanken“ würden wir heute sagen.

„Tu Deinem Leib Gutes, damit Deine Seele Lust hat, darin zu wohnen“, sagt Theresa von Avila, eine spanische Mystikerin aus dem 16. Jahrhundert. Sie versteht den Leib als Tempel der Seele. Wir könnten nicht singen und nicht tanzen ohne unseren Körper, wir spürten die Sonne nicht auf der Haut und könnten den Vögeln nicht zuhören. Wir könnten einander nicht berühren, küssen und festhalten. Die Personaltrainerin Andrea Lautenbach zitiert Hildegard von Bingen: „Meine Seele jubelt im Fleisch…O mein Fleisch und meine Glieder in denen ich Wohnung nahm, wie sehr freue ich mich, dass ich zu Euch geschickt wurde… Der Seele Freude ist es, im Leibe wirksam zu sein.“ 

So wie wir nur in einer bestimmten Sprache sprechen können, wie wir nur in einem festgelegten Alphabet schreiben können, so finden auch unsere Beziehungen und Gefühle Ausdruck über den Körper- den eigenen, unvollkommenen Körper. So zerbrechlich und endlich wie er ist. Wer möchte nicht manchmal aus der Haut fahren, strapaziert nicht die eigene Gesundheit, überfordert sich nicht. Und dennoch bin ich in diesem Körper in meiner Zeit- und er ermöglicht mir, ganz da zu sein, auch vor Gott. Kniend, singend, mit ausgestreckten Armen oder sitzend in der Stille. Auch beim Beten und erst recht beim Segnen sind wir im Leib.

„ Was ich in meine Begleitungsarbeit eingebracht habe, kommt von meiner Großmutter: Sie hat mir immer mit dem Daumen ein Kreuz auf die Stirn gezeichnet – und so mache ich es heute bei anderen. Besonders wichtig ist mir das, wenn der Abschied naht- und ich stelle immer wieder fest, dass das gern aufgenommen wird. Und dann erkläre ich das: Meine Großmutter hat immer gesagt, das heißt: Gott befohlen. Dann kommt ganz oft zurück: „Ja, das ist schön“, …erzählt Martin Quel von seinen Erfahrungen in der Hospizarbeit. ( 45)

Und noch unseren Verstorbenen falten wir die Hände. Am Umgang mit unseren Toten zeigt sich, dass wir den Körper eben nicht nur als Materie verstehen – wir wollen, dass unsere Angehörigen würdig zur letzten Ruhe gehen.

Martin Quel: „Man kann nicht etwas, mit dem man 88, 87 Jahre rumgelaufen ist, ablegen wie ein altes Kleid..“ ( 1.08).“ Das ist nicht egal- ich komme weg und werde eingeäschert; ich bin das ja dann nicht mehr- Nein, so ist das nicht.“

Und natürlich sagt es auch etwas über das Verständnis von Leib und Seele aus, wenn wir den toten Körper eines Menschen heute tendenziell als verfügbares Gut verstehen. Als Bank für Genmaterial, als Lager für Organe. Dass sich bei vielen etwas dagegen sträubt, ist in den Debatten um die Organspende deutlich zu spüren. Erträglich wird das Ganze nur, wenn wir die Gabe mit der Vorstellung verbinden, anderen Leben zu schenken. „Mein Leib – für Euch gegeben“, sagt Jesus, als er beim letzten Abendmahl das Brot bricht und es seinen Jüngern gibt. In dieser Tischgemeinschaft drückt sich die Hingabe ganz leiblich aus – ein starkes Symbol, das zum Kern des christlichen Glaubens gehört. Und später erkennen die Jünger den auferstandenen Jesus an seiner Art, das Brot zu brechen. Sie erkennen ihn an einer Geste, aber auch an seiner Stimme und an seinen Wunden, den Zeichen der Folter an seinem Körper. Denn auch der auferstandene Jesus ist im Leib – erlöst und befreit, aber doch erkennbar er selbst. Ich glaube an die Auferstehung des Fleisches, hieß es deshalb früher im Glaubensbekenntnis. Wie das gehen soll? Ich weiß es nicht.

Aber ich weiß: Die Trennung von Leib und Seele, die Abspaltung unseres Körpers passt nicht zu unserem Glauben- sie kommt aus der platonischen Philosophie. In seinem neuen Buch „Gotteskörper“ hat Christoph Markschies[4] beschrieben, wie sich diese Philosophie ganz allmählich im Christentum eingenistet hat- mit ihrer Verachtung von Lebenslust und Leiblichkeit. Und mit der Spaltung von Seelsorge und Leibsorge- und der Missachtung der Pflegearbeit. Die Schöpfungsgeschichte aber erzählt, dass der Atem Gottes durch unseren Körper fließt. Und es ist gut, wenn wir ab und an innehalten und diese Energie wahrnehmen. Widerstandskraft pur. Lebenskraft bis zum Ende- und darüber hinaus. Warum nicht auch mal danke sagen so wie Udo Lindenberg.

[1] Vgl. z.B. Volker Fintelmann, Marcela Ullmann, Warnsignale des Körpers, Beschwerden von Körper und Seele ganzheitlich verstehen, München 2004
[2] Ariadne von Schirach, Du sollst nicht funktionieren – Für eine neue Lebenskunst, München 2014
[3] Klaus M. Meyer-Albich.
[4] Christoph Markschies, Gotteskörper, München 2016

DLF: 06. Mai 2016

Einmal kommt alles ans Licht – Gedanken zur Woche 

Einmal kommt alles ans Licht. Edward Snowden belegte das Ausmaß der NSA-Spionage. Schweizer Banker lieferten deutschen Steuerbehörden CDs mit den Namen der Steuerflüchtigen. Und seit kurzem liegen die Panama-Papers in Buchhandlungen aus – auch Briefkastenfirmen bleiben auf Dauer nicht anonym.

Einmal kommt alles an die Öffentlichkeit. Das Internet und die weltweiten Netze investigativer Journalisten beschleunigen die Prozesse. Was mit Wikileaks begann, hat in dieser Woche mit den internen Protokollen der TTIP-Verhandlungen einen neuen Höhepunkt gefunden. Und viele finden: es war höchste Zeit. Es weckt nun einmal Misstrauen, wenn Wirtschaftsabkommen, die uns alle angehen, hinter verschlossenen Türen verhandelt werden. Fairer Handel braucht auch faire Verhandlungen.

Der Verhandlungsstand bestätigt, was viele fürchten: Dass unter dem Motto „Kotflügel gegen Chlorhähnchen und Genmais“ Verbraucherrechte eingeschränkt werden. Die europäischen Agrarstandards stehen amerikanischen Exportinteressen im Weg. Das kann niemanden erstaunen, der harte Geschäftsverhandlungen kennt. Und wer mit der deutschen Exportwirtschaft vertraut ist, der weiß auch, dass der Freihandel bislang Garant unseres Wohlstands war. Wenn es allerdings um Lebensmittelsicherheit geht, dann fragen sich viele doch, was der Wohlstand kosten darf.

Diese Debatte muss öffentlich geführt werden. Wo Wirtschaft und Finanzgebaren sich der politischen Kontrolle entziehen, da werden wir zu Recht unruhig. Schließlich ist die demokratische Kontrolle lange erkämpft worden – die der Geheimdienste und auch die der Wirtschaft. In der globalen Wirtschaft wird das aber immer schwieriger. Schließlich sind manche der transnationalen Firmen finanzstärker und mächtiger als Staaten. Auch Lebensmittelkonzerne gehören dazu. Deshalb stört mich an dem derzeitigen Verhandlungsstand von TTIP noch etwas anderes. Nämlich der Vorschlag, spezielle internationale Schiedsgerichte mit Streitigkeiten über Wettbewerbsnachteile für Investoren zu betrauen. Vertreter der Kirchen, Gewerkschaften und Umweltverbände, aber auch die europäischen Verhandlungspartner sehen das seit langem kritisch, wenn Richter nicht öffentlich ernannt werden und europäischen Gerichten die letzte Kompetenz nicht erhalten bleibt.

Es geht um die Bedeutung Europas als Wirtschaftsraum und um die Zukunft westlicher Standards in der globalen Wirtschaft. Deshalb ist es gut, dass der Streit nun in der Öffentlichkeit angekommen ist. Um Chlorhühnchen und Kotflügel, und auch um die Schiedsgerichte. Denn es ist ja nicht nur der Wohlstand, der unser Land lebenswert macht, sondern auch und vielleicht viel mehr der Rechtsstaat.

Was das bedeutet, habe ich erst begriffen, als ich dienstlich im Nahen Osten unterwegs war. Dass hierzulande niemand verschwindet. Dass jeder vor Gericht einen Pflichtverteidiger bekommt und die Richter unabhängig sind; dass man gegen Urteile in Revision gehen kann – was für Errungenschaften. Und dazu gehören auch öffentliche Debatten und die freie Presse.

Nichts bleibt auf Dauer im Verborgenen. Ich weiß, das wünscht man sich nicht, wenn es um die unangenehmen Seiten im eigenen Leben geht – und das sind ja nicht nur dunkle Geschäfte, sondern vielleicht auch Krankheiten oder andere schmerzhafte Erfahrungen. Niemand möchte, dass so etwas ans Licht gezerrt wird – und niemand steht gern vor Gericht. Aber wenn es passiert, dann kommt es darauf an, dass wir gute Anwälte haben. Der christliche Glaube macht mir in dieser Hinsicht Mut: wann immer wir bedrängt werden, wenn die Gerechtigkeit leidet – dann können wir uns darauf verlassen, dass Jesus selbst unser Fürsprecher ist. Beim jüngsten, dem letzten Gericht, wenn alles ans Licht kommt, und auch schon jetzt. Er hat die Geschichte der Völker im Blick – und er sieht sie nicht nur von oben, sondern auch von unten, aus der Sicht der Opfer. Das haben wir gestern gefeiert – am Himmelfahrtstag.


weitere Informationen unter: www.7wochenohne.evangelisch.de

DLF: 08.  bis 13. Februar 2016

„Nur die Liebe zählt“: Rosenmontag

In dieser Woche beginnt in den Kirchen die Fastenzeit. Sieben Wochen bewusstes Leben. „Großes Herz – Sieben Wochen ohne Enge“, heißt diesmal das evangelische Motto. Schon seit ein paar Tagen hängt der Fastenkalender in unserer Küche – das Titelbild zeigt eine Frau mit lachendem, offenem Gesicht, die mit beiden Händen Konfetti fängt.

Das passt schon heute gut, obwohl die Fastenzeit noch gar nicht angefangen hat. Es ist Rosenmontag – im Rheinland, in der Pfalz oder in Frankfurt stehen die Menschen an den Straßen und fangen Kamellen. Süße Sachen, die von den Karnevalswagen in die Menge geworfen werden. Ich erinnere mich an das kleine Dorf in der Eifel, wo meine Familie ein Ferienhaus hatte – ein altes Bauernhaus. Beim Karnevalszug in diesem Dorf machte jeder mit – in der Fußgruppe, auf dem Wagen oder auch an den Ständen, die am Rand der Straße standen. Mit Waffeln und natürlich auch mit Bier – und Limonade für die Kinder. Seit Wochen war darüber gesprochen worden, wer welches Kostüm trug: die Frauen nähten, die Männer bauten Wagen – seit nach St. Martin die neue Session begonnen hatte, gab es kein anderes Thema mehr. Im übrigen waren der Martinsverein, der Schützen- und der Karnevalsverein sowieso identisch. Immer die gleichen Leute – aber am Rosenmontag eben doch ganz anders. An den Kindern ließen sich ihre Träume ablesen: überall Cowboys und Prinzessinnen. Schönheit und Stärke.

Sich ausprobieren, neue Freiheiten entdecken – raus aus der Enge des Alltags. Wenn dann das Bier schon reichlich geflossen ist, bleibt von der harmlosen Kinderei oft nicht viel übrig. Der Name Rosenmontag kommt ja nicht von den bunten Blütenblättern, er kommt von der Raserei, die eben auch zum Winterbrauchtum gehört. Sich vergessen und über die Stränge schlagen. Den wilden Kerl markieren – bei der Fasnacht im Süden auch mit Pelzen und Schellen. Klar, dass gleich nach den Silvester-Übergriffen in Köln neue Sicherheitsmaßnahmen für Karneval angekündigt wurden. Anmache und frauenfeindliche Gewalt gab es an diesen Tagen schon immer. Und schon immer sahen viele weg. Aber nach dem Ausbruch von Gewalt am Kölner Hauptbahnhof muss damit Schluss sein.

„Schenk mir Dein ganzes Herz und bleib bei mir“ singt die Karnevalsgruppe „Die Höhner“. Für heiße Liebesgeschichten braucht man heute eigentlich keinen Rosenmontag mehr. Auch nicht für Rollentausch und Kleiderwechsel – nicht, um sich selbst neu auszuprobieren. Unsere Gesellschaft lässt vieles zu und es ist schon schwer, die Grenze zu beschreiben, die einst so klar markiert war – mit Beginn der Fastenzeit war alles vorbei. „Schenk mir Dein Herz, ich schenk Dir meins – nur die Liebe zählt“, heißt es in dem Lied der Höhner. Vielleicht ist damit die Grenze markiert. Es ist eben nicht liebevoll, jemand gegen seinen Willen zu begrapschen. Oder den Partner hinterrücks zu betrügen.

„Liebe und tu, was Du willst“, schreibt der Kirchenvater Augustinus. Auch er hatte vor seiner Konversion zum Christentum so ziemlich alles probiert und dabei viele enttäuscht – und er kennt kein anderes Kriterium für das Glück als die Liebe. Er wusste, wie lieblos es ist, auf der Suche nach sich selbst die Menschen im Stich zu lassen, die einen brauchen. Oder einen anderen zu begehren und zu benutzen – nur als Schmuck für das eigene Ego. Es kann aber auch lieblos sein, Regeln und Ordnung über alles zu stellen – und so alle Menschlichkeit zu vergessen. Das hat Jesus gezeigt, als er sich mit den Verachteten und Geächteten an einen Tisch setzte: den Freund der Zöllner und Sünder nannten sie ihn, einen Fresser und Weinsäufer. Er liebte es, die Perspektive zu wechseln; ließ sich von einem Zöllner einladen, von einer freizügigen Frau die Füße waschen. Ein bisschen davon steckt bis heute im Karneval: in den fröhlichen Feiern, in der Umkehr des Blickwinkels. Ob Jesus mitgefeiert hätte? In meinem kleinen Eifeldorf, wo die Kinder in ihren Kostümen in die Kirche kamen, bestimmt. Wo alles außer Rand und Band gerät, ganz sicher nicht. Es ist die Liebe, die zählt.

Veilchendienstag – Katzenjammer

Müde, erschöpft und ein bisschen verkatert. Mancher wird heute so wach geworden sein. Nach den Karnevalspartys am Wochenende oder gestern, nach Rosenmontag. Genug gefeiert jetzt – auch, wer von Karneval nichts hält, kennt das Gefühl. Ein Katerfrühstück tut jetzt gut – mit viel Wasser und Kaffee. Und dann ein langer Spaziergang. Durchatmen und sich sortieren, ehe der Alltag wieder beginnt. Morgen ist Aschermittwoch und alles vorbei. Egal, wie schön es war.

Alles vorbei. Wenn auf den Traumurlaub der Alltag folgt. Wenn eine Liebe zu Ende geht, eine Illusion zerplatzt. Wenn Offenheit umschlägt in Angst. Wenn ich plötzlich mit einer Lüge konfrontiert werde, eine alltägliche Gemeinheit mich kränkt, wenn ich die eigene Grenzen spüre. Ich fühle mich dann, als hätte die Welle, auf der ich eben noch reiten konnte, mich mit der Flut an Land geschleudert. Himmelhoch jauchzend – zum Tode betrübt, wie es bei Goethe heißt. Eben noch getragen vom Lebensglück, voll Hochgefühl und Begeisterung, bin ich plötzlich schutzlos, den Fragen ausgeliefert: Wie wird es weitergehen? Wie finde ich wieder Kraft, meinen Alltag zu bewältigen? Was kann ich tun für meine innere Balance, im Auf und Ab des Lebens?

Ich feiere keinen Karneval. Aber ich bin im Rheinland groß geworden und konnte der Ausgelassenheit kaum entgehen – nicht den Rosenmontagszügen und nicht den Abgestürzten auf den Straßen. Inzwischen nutzen viele die Zeit für einen kurzen Urlaub – weit weg von Alaaf und Helau. Aber heute tobt sich ohnehin jeder aus, wo und wie er will. Karneval wird ganz einfach zur Party – die Traditionen verlieren an Bedeutung. Weniger Umzüge auf den Dörfern, weniger Sitzungen im Fernsehen. Und wie viele Katholiken werden morgen in die Messe gehen und sich das Aschekreuz auf die Stirn zeichnen lassen? Das alte Zeichen der Gefährdung und der Grenzen unseres Lebens verblasst. Dabei können wir diese Erinnerung brauchen. Denn die Wellen schlagen ja gerade hoch in unserem Land. Die Wellen der Begeisterung und die der Empörung.

Viele beschwören jetzt das Ende der Willkommenskultur. Ist da wieder eine Illusion geplatzt? Ich gehöre zu denen, die dafür eintreten, die Grenzen nicht zu schließen. Aber natürlich stoße ich auch an meine eigenen Grenzen. Und wenn ich nicht mehr weiter weiß, wird auch in mir alles eng. Wenn der Katzenjammer kommt, will ich nur noch für mich sein. Schluss mit der Offenheit, alles vorbei? An solchen Tagen wünsche ich mir ein festes Herz. Keins aus Stein, aber auch keins, das sich übernimmt. Dann tut es gut, erst einmal zur Ruhe zu kommen. Das Auf und Ab meines Lebens vor Augen. Offenheit, ausgelassene Freude und tiefe Enttäuschung. Großes Glück und Grenzerfahrungen. Manchmal muss ich meinem Katzenjammer Raum geben und vielleicht auch die Tränen fließen lassen. Das hilft. Und dann ein Herzensgebet. Nur wenige Wort: Kyrie eleison. Weiteratmen und den Faden nicht loslassen, der mich mit Gottes Barmherzigkeit verbindet. Mit dem Blutkreislauf der Liebe.

Die Liebe hat viele Gestalten. Beim Karneval werden nur wenige sichtbar – Amor, Erotik und Sex. Aber Liebe ist mehr. Sie ist auch Caritas und Nächstenliebe. Vater und Mutter, die sich tagaus tagein um ihre Kinder kümmern, Nachbarn, die den Flüchtlingen bei den ersten Wegen helfen, Kolleginnen und Kollegen, die da sind, damit wir nach einer Enttäuschung zurück finden in den Alltag. An Tagen mit Katzenjammer, müde von den großen Gefühlen, ist diese alltägliche Liebe der beste Weg zurück ins Leben. Den Kindern das Schulbrot streichen, der kranken Freundin einen Brief schreiben, mit Flüchtlingen Deutsch üben – das sind Kleinigkeiten, aber sie erden und sie weiten das Herz. Damit keiner verzweifelt. Sie machen auf stille und unspektakuläre Weise glücklich. Übrigens sah das auch Goethe so, der das Auf und Ab der Gefühle so gut kannte : „Freudvoll und leidvoll, gedankenvoll sein; Langen und bangen in schwebender Pein; Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt; Glücklich allein ist die Seele, die liebt“.

Aschermittwoch – Mit Grenzen leben

Heute ist der Tag der ungeschminkten Wahrheiten. Im Bad vor dem Spiegel: das müde Gesicht ist grau und erschöpft. Die kleinen Falten, die Augenringe – da fällt es schwer, sich selbst ermunternd zuzulächeln. Lieber nicht so genau hinsehen und erst mal unter die Dusche. Es ist nicht so leicht, mit den eigenen Grenzen, dem eigenen Altern zurecht zu kommen.

Aber heute ist der Tag der ungeschminkten Wahrheiten. Das gilt auch auf der politischen Bühne. Es ist Aschermittwoch. Zeit zur offenen Abrechnung mit der Politik im Land für Parteien und Sozialverbände. Auch am sozialpolitischen Aschermittwoch der Kirchen wird es heute Veranstaltungen geben, in denen Rednerinnen und Redner die Situation im Land kritisch beleuchten. Ich hoffe auf klare Worte – mit Witz und Schärfe, aber ohne Beleidigungen. Jeder weiß: wenn uns die Wahrheit um die Ohren geschlagen wird wie ein nasser Lappen, dann schützen wir uns und weichen lieber aus.

Ich muss allerdings zugeben: der Aschermittwoch hat schon eine drastische Symbolik. Allein das Aschekreuz, das den Besuchern der Messe traditionell auf die Stirn gezeichnet wird. Du bist sterblich, heißt das. Dein Leben vergeht. Es stimmt ja leider – ich sehe das jeden Morgen im Spiegel. Der erste Anblick ist zunehmend gewöhnungsbedürftig. Gewaschen und geschminkt nähere ich mich meinem freundlichen Selbstbild wieder an. Aber der Aschermittwoch verlangt ja das Gegenteil: Abschminken, kahlscheren, die Masken absetzen und mich der nackten Wahrheit stellen. „Bedenke, Mensch, dass Du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst”, heißt es bei der Austeilung der Aschenkreuze.[1] Alles ist vergänglich. Wir sind verletzlich. Und wir gehen nicht immer angemessen damit um. Viele Probleme entstehen ja deshalb, weil wir unsere Grenzen überschreiten und schließlich tricksen, um stärker zu erscheinen, als wir sind. Das gilt für die Einzelnen, aber zum Beispiel auch in der Wirtschaft.

Müssen wir also alle in Sack und Asche gehen? Bußübungen sind jedenfalls nicht von gestern. Sie werden auch von Staatschefs in Japan oder von globalen Managern verlangt wie jüngst vom VW-Chef in Amerika. Wenn Grenzen überschritten sind, ist Demut angesagt. Hoffentlich nicht nur als Ritual, sondern als Haltung. Diese Haltung zu entwickeln, darum geht es in der Fastenzeit, die heute beginnt. Fasten kann empfindlicher machen für die Grenzen unseres Körpers und unserer Gesundheit. Vielleicht auch empfänglicher für das, was die Menschen um uns bewegt. Solidarischer mit den Schwächen der anderen. Das weiß jeder, der schon einmal geübt hat, auf Alkohol oder Zigaretten oder auch nur auf Kaffee zu verzichten. Am Anfang steht der Kampf mit der eigenen Müdigkeit und Übellaunigkeit, man fühlt sich dünnhäutig und verletzlich, bis diese Empfindlichkeit endlich zu einer neuen Stärke wird: wer ohne Suchtmittel auskommt, seine Nahrung umstellt, sich mehr Zeit nimmt für Sport und Bewegung, kann hellsichtiger werden und hellhöriger. Fasten richtet uns neu aus – es erdet und öffnet zugleich.

Ich denke an den jungen Mann, der, wie es in der Bibel heißt, in Saus und Braus lebte und sein ganzes Erbe verprasst hat. Die meisten kennen die Geschichte vom verlorenen Sohn. Er wird sich wirklich verloren gefühlt haben, als er am Ende weit weg von zu Hause als Schweinehirt arbeiten musste und auf der nackten Erde schlief. An den eigenen Träumen gescheitert. Aber genau in dieser Situation, als er ganz am Boden war, da richtet er sein Leben neu aus. „Ich will heimkehren und zu meinem Vater gehen“, heißt es im Gleichnis. Und er hat das Glück, dass sein Vater ein großes Herz hat. Er wird ihm entgegenkommen und ihn umarmen, diesen abgerissenen, müden und verzweifelten jungen Mann. Er wird in sein Gesicht schauen, ihn anlächeln und seinen Sohn in ihm erkennen. Er wird ihn neu einkleiden und ihm einen Ring an den Finger stecken. Kein Wunder, dass diese Geschichte so bekannt ist, dass so viele sie lieben: sie macht Mut, die eigenen Grenzen zu akzeptieren und auch die der anderen. Und dann gemeinsam neu zu beginnen. Vielleicht gerade heute – am Aschermittwoch.

Fastendonnerstag – Großes Herz- eine Fastenaktion

Es gab schon merkwürdige Fastenbräuche in früheren Jahrhunderten. In Halberstadt wurde am Aschermittwoch ein armer Missetäter als „alter Adam” aus der Kirche gejagt. Er musste dann während der ganzen Fastenzeit barfuß betteln. Sieben Wochen lang bekam er Speise an den Kirchentüren, bis er endlich am Gründonnerstag beim Abendmahlsgottesdienst friedlich wieder in die Gemeinschaft aufgenommen wurde. Als neuer Mensch, den die Fastenzeit gereinigt und verändert hatte. Ein Einzelner als Sinnbild für die ganze Stadt.

Wie mag man entschieden haben, wer da in Sack und Asche gehen sollte? Gab es heimliche oder öffentliche Sündenregister? Oder wurde einfach gelost? Und wie mag man den Ausgestoßenen angesehen haben, wenn er einem begegnete – auf den Straßen oder an der Kirchentür? Hatte man das Gefühl, dass es jedem so gehen könnte? War der arme Sünder eine Mahnung an die mit der reinen Weste, das eigene Leben unter die Lupe zu nehmen? Oder sah man eben doch auf ihn herab? Ich weiß es nicht – aber diese Fragen beschäftigen mich nicht nur in der Fastenzeit.

Was denken wir, wenn wir Obdachlosen begegnen in unserer Stadt. Sind sie ein Sinnbild für das Auseinanderdriften von Reichtum und Armut in unserem Land? Eine Erinnerung daran, wie leicht man abstürzen kann? Sehen wir sie überhaupt, wenn sie morgens ihr Nachtlager am Bahnhof ordnen oder mit dem Hund vor dem Einkaufszentrum sitzen, die Harmonika in der Hand, den Pappbecher mit Kleingeld vor sich? Kürzlich hat jemand vorgeschlagen, sich selbst einmal an diese Stelle zu setzen – nur diesmal mit einem gefüllten Becher. Und mit einer Einladung: „Greifen Sie zu – ich bin reich beschenkt“. Eine spannende Idee. Wie lange dauert es, bis jemand hinschaut, wenn einer einfach mal die Rollen tauscht? Mein Friseur hat einem der Obdachlosen, der immer an der gleichen Stelle Musik macht, statt Geld eine Bartcreme mitgebracht. Sein langer Bart, meinte er, wäre eigentlich besonders schön, weil er weniger Chemie brauchte als andere, die dauernd unter der Dusche stehen. Es kann eben auch zum Zwang werden, sich zu reinigen. Oder, schlimmer noch, die Gemeinschaft zu reinigen, in dem man andere ausschließt. Die Bettler aus der Stadt oder die Sünder vom Abendmahl.

Die Evangelien selbst erinnern daran, wie furchtbar das enden kann. Am Ende wurde Jesus selbst aus der Stadt gejagt – als Gotteslästerer gebrandmarkt starb er vor den Toren am Kreuz. Besser einer als das ganze Volk, meinten die Mächtigen. Dass er damit für alle starb, das passte dann aber doch. Denn er hatte sie alle an seinen Tisch eingeladen: die Kranken und Obdachlosen, die Zöllner und Sünder, die die Gemeinschaft ausgeschlossen hatte. Offen und großherzig.

„Großes Herz“ heißt die Fastenaktion der evangelischen Kirche in diesem Jahr. Eine Einladung, auf andere zuzugehen und sie direkt anzusprechen, offen und großherzig. Die Journalistin Jenni Roth zum Beispiel, die in einem Mietshaus in Berlin–Neukölln wohnt, hat sich drei Wochen Zeit genommen, um ihre Nachbarn kennen zu lernen. Manche hat sie auf der Treppe angesprochen, bei anderen hat sie sich getraut zu klingeln. Hier hat sie später Marmelade verschenkt, dort einmal Kinder gehütet. Und plötzlich nahm sie war, wie Gemeinschaft entsteht – und wieviel verbindende Fäden es schon gab in diesem Haus. Zwei machten Musik miteinander, jemand kaufte für den anderen ein. Das Treppenhaus mit den unbekannten Namen an den Klingeln, wurde allmählich zum Treffpunkt. Und am Ende entstand ein Gruppenfoto mit vielen lachenden Gesichtern. Türen öffnen statt Mauern ziehen, das weitet das Herz und auch den Blick.

Das wäre doch was, wenn wir in dieser Fastenzeit unseren Blick verändern. Auf unsere Nachbarn, auf die Menschen ohne Wohnung und Quartier und auch auf uns selbst. Weiße Westen gibt es nicht viele zu verteilen. Aber in manchen Städten stehen junge Leute an der Straße und verteilen free hugs, eine einfache Umarmung für die, die sich allein fühlen. Wenn wir heute Herz zeigen und einen Menschen umarmen, das wäre ein Anfang für diese Fastenzeit.

Fastensamstag – Großreinemachen

Zeit für den Hausputz – äußerlich und auch innerlich. Die Fastenzeit ist perfekt, einmal wieder aufzuräumen, Überblick und Klarheit zu schaffen. Und Überflüssiges loszuwerden. Ein Zimmer, ein Schrank nach dem anderen: Brauche ich das noch? Habe ich es im letzten Jahr benutzt? Oder hängen wertvolle Erinnerungen dran? Soziologen stellen fest, dass die Zahl der Dinge in unserem Leben in den letzten Jahrzehnten um ein Mehrfaches gestiegen ist. Pioniere eines neuen Lebensstils beschreiben, wie gut man mit einer Beschränkung lebt. Weniger ist mehr: das macht beweglicher, klarer und freier.

Also: drei große Kisten: eine zum Verschenken, eine zum Wegwerfen, eine für den Keller- und dann geht es los. Manche entwickeln eine richtige Lust am Wegwerfen und schließen gleich noch einen Hausputz an, bis alles glänzt und die Frische duftet. Andere müssen sich zwingen, so wie ich, und kämpfen mit verbissenen Zähnen um die nötige Disziplin. Ich erinnere mich an die Umzüge, die hinter mir liegen. Und weiß: spätestens beim nächsten Umzug wird in der Wegwerfkiste landen, wovon ich mich jetzt so schwer trenne. Und ich weiß auch, wie schön es ist, bei einem Neuanfang all den alten Krempel hinter mir zu lassen. Mich neu einzurichten mit dem, was wirklich zu mir gehört. Kein Neuanfang ohne Großreinemachen.

Die Bibel erzählt, wie Jesus im Tempel von Jerusalem aufräumt. Er stößt die Tische der Verkäufer um, die am Rand der heiligen Hallen eine Art Markt aufgebaut haben. Geldwechsler, Andenkenverkäufer, andere mit Tauben und Schafen, die zum Opfern gebraucht werden. Geldgeklapper, Schafe blöken, Marktgebrüll. „Mein Haus soll ein Bethaus sein, aber Ihr habt daraus eine Räuberhöhle gemacht“, schreit Jesus, und wütet weiter. Ja, das muss man wohl so sagen – Jesus erweist sich als Berserker beim Aufräumen. Er macht das sozusagen mit Anlauf – offenbar weiß er genau, was nötig ist zum Beten, und was eben nicht. Wer aufräumt, braucht diese Klarheit, und er braucht auch ein Ziel. Hier geht es um einen Neuanfang mit Gott.

Das passt gut in die Fastenzeit. Schließlich geht es darum, zu prüfen, was wir brauchen und woran unser Herz hängt. Darum geht es, wenn wir auf Kaffee oder Alkohol verzichten, aber eben auch, wenn wir unsere Wohnung oder unser Leben aufräumen. Auch den Kalender kann man entmisten, damit Zeit bleibt für das, was wirklich wichtig ist. Es reicht, einfach an einer Ecke anzufangen. Dann kommt eine Bewegung in Gang, die überrascht. Was wir essen und trinken, wie wir wohnen und reisen, das sind eben nicht nur Äußerlichkeiten.

Auch in den alten Fastenbräuchen spielen die äußeren und die inneren Reinigungsrituale eine große Rolle. Zum Aschermittwoch ließen sich Gläubige kahl scheren, verzichteten auf Bier und Fleisch, wuschen ihren Geldbeutel aus und hängten ihn an die Wäscheleine. Loslassen sichtbar gemacht. Soviel Freiheit kann auch beängstigend sein. Ich denke deshalb noch einmal zurück an Jesus. Von denen, die ihm nachfolgten, erwartete er, dass sie radikal losließen, was ihnen bis dahin wichtig war: ihre Häuser und Familien, ihren Besitz. So wie er, ein Wanderprediger, unterwegs zu einer ganz neuen Welt. Er hatte klare Vorstellungen darüber, was seine Freunde mitnehmen sollten: keine Schuhe, keinen Beutel – stattdessen immer einen Freund an der Seite. Und den Wunsch nach Frieden.

Ich muss zugeben: ich reise mit größerem Gepäck. Soviel Mut, soviel Freiheit traue ich mir nicht zu. Aber sie beeindruckt mich. Und mir gefällt, wie Jesus einmal seine Jünger und Jüngerinnen fragt, ob sie denn je Mangel empfunden hätten. Sie antworten mit einem klaren Nein. Seine Nähe ist ihnen genug, seine Worte machen satt. Daran will ich in dieser Fastenzeit denken: im Loslassen erkennen, was wirklich satt macht. Beim Wegwerfen spüren, was das Leben wirklich ausfüllt. So ein Hausputz ist eine echte Chance.

[1] Gen. 3, 19


Kinder auf der Flucht

DLF: 12.02.2016

Im Londoner Museum of Childhood liegt eine Käthe-Kruse-Puppe. Fast 80 Jahre alt und ziemlich ramponiert. Sie gehört Stephanie Shirley, einer englischen Dame, die selbst schon über 80 ist. Beide haben eine weite Reise hinter sich und vor kurzem erst wieder zusammen gefunden. Es begann im Sommer 1939, als Steve Shirley fünf war, am Bahnhof in Wien. Da setzten ihre Eltern sie mit ihrer Schwester Renate in den Zug – auf einen der Kindertransporte nach London. Ein kleines Mädchen, das nichts mehr zum Festhalten hat als die Schwester und die geliebte Puppe. Steve hieß damals noch Vera Buchthal. Knapp 1000 Kinder waren im Zug – und nur zwei Erwachsene. Als Vera und Renate endlich in London aussteigen, ist die Puppe weg. Im Durcheinander verloren gegangen.

Es ist ein kleines Wunder, dass sie heute im Museum liegt. Und ein großes, dass aus Vera Buchthal Stephanie Shirley wurde, eine britische, adlige und erfolgreiche Unternehmerin, Multimillionärin und bekannte Wohltäterin. Auf ihrem Weg hat sie harte Kämpfe durchstehen müssen. Angstschweiß und Tränen, nicht nur damals auf der Flucht vor den Nazis, sondern auch später als Frau auf dem Weg an die Spitze eines IT-Unternehmens und als Mutter mit einem autistischen Sohn. Zerrissen zwischen Management und Mutterliebe, manchmal dem Selbstmord nahe. Aber immer war da dieses Gefühl, dass die Rettung, die sie erlebt hat, einen Sinn haben musste. Shirley wollte etwas aus ihrem Leben machen und sie wollte Britin werden. Denn der Kontakt zur alten Heimat war abgerissen – auch der zu ihren eigenen Eltern, obwohl schließlich beide den Holocaust überlebten. Sie hatte eine wunderbare Gastfamilie gefunden, aber sie konnte lange nicht damit zurechtkommen, dass die eigenen Eltern sie weggeschickt hatten. Erst heute, gegen Ende ihres Lebens, sieht sie das anders. Sie hat ihren Sohn verloren, ihre Firma abgegeben, einen großen Teil ihres Vermögens gespendet – die Kämpfe sind vorbei, sie ist angekommen. „Das Beste, was meine Mutter für mich tun konnte“, sagt sie, „war, mich loszulassen“.

Diese Woche stritt die Politik über den Familiennachzug für Flüchtlingskinder. Ich kann es auch bald nicht mehr hören, wie mühsam die Abstimmungen in der Asyl- und Flüchtlingspolitik sind. Aber dass nun die Kinder zum Mittelpunkt des Streits zwischen Parteien und Ministerien wurden, das hat mich so geärgert, dass ich genauer hinhörte. Die einen fürchten, dass die Kinder nur vorgeschickt würden, um die Erwachsenen nachzuholen. Die anderen verweisen darauf, wie verletzlich Kinder sind, wenn sie von ihren Familien getrennt werden.

Was stimmt, ist: Menschen sind keine Einzelgänger. Und gerade Kinder brauchen einen Schutzraum, ein Beziehungsnetz, eine gemeinsame Geschichte. Heimat eben. Und Familie. Das alles verlassen und sich neu verorten zu müssen, ist eine riesige Herausforderung. Erst recht für ein Kind. Denn ein Kind kann nicht verstehen, warum seine Eltern es gehen lassen. Auch wenn das manchmal das Beste ist, was sie tun können.

Es fällt mir schwer, dem politischen Gezerre zuzuhören. Schließlich geht es um Familie, die unter besonderem Schutz unseres Grundgesetzes steht. Um Kinderschutz und Kinderrechte. Endlich scheint nun klar: in der Frage des Familiennachzugs für Flüchtlingskinder mit subsidiärem Status kann es Einzelfallprüfungen geben. Ob das funktionieren kann, das weiß ich nicht. Aber dass uns allen die einzelnen Kinder vor Augen stehen, das finde ich richtig. Sie gehören in die Mitte – nicht als symbolischer Abschreckungsversuch von Flüchtenden, sondern in das Zentrum der nötigen Integrationsanstrengungen. So wie Jesus einmal ein Kind in die Mitte gestellt hat. „Wer ein Kind aufnimmt in meinem Namen“, sagt er, „der nimmt mich auf“. Die englischen Gasteltern der jüdischen Kinder aus Deutschland und Österreich haben das getan – für Shirley und viele andere.


Venedig- Hinter Glas-1

Unterwegs Richtung Heimat

SR2 Kulturradio „Lebenszeichen“: 07.11.2016

Wer schon öfter umgezogen ist, der weiß, welche Plätze die ersten Anlaufstellen sind in der neuen Stadt. Die Läden, in denen man Putz- und Lebensmittel kaufen kann, muss man zuerst finden. Dann Arbeitsplatz, Schule und Kindergarten, Ärzte muss man kennen und natürlich die Nachbarn, die die kürzesten Wege wissen. Man brauche 33 Menschen, um sich irgendwo zu Hause zu fühlen, habe ich neulich gelesen. Im Schnitt dauere es ein Jahr, bis man die mit Namen kennt.

Dass Familien über mehrere Generationen an einem Ort wohnen, ist längst keine Selbstverständlichkeit mehr. Nicht erst die beiden Weltkriege haben die Deutschen durcheinander gewirbelt, auch zuvor schon die Industrialisierung. Und auch heute ziehen junge Leute auf der Suche nach Arbeit vom Land in die Städte. Berufstätige Väter pendeln zwischen zwei Orten hin und her – Mütter und Kinder bleiben daheim. Jedes dritte Paar in der ersten Berufsphase führt eine Wochenendbeziehung. Wer häufig umzieht, verliert leicht die Einbettung in Familie und Nachbarschaft. Hinzu kommt, dass nicht nur wir selbst unsere Wohnorte wechseln, auch die jeweiligen Nachbarschaften ändern ihr Gesicht. Fremde ziehen zu – als Arbeitssuchende, Migranten oder Flüchtlinge auf der Suche nach einer neuen Heimat. Bei einigen Einheimischen wächst deshalb die Angst vor dem Verlust des Eigenen. Der eigenen Kultur, der eigenen Religion und letztlich auch: der eigenen Identität. Wenn dann noch Kirchen geschlossen oder umgewidmet werden, weil die Gemeinden schrumpfen, dann haben viele ein Gefühl von Heimatverlust.

Dieses Gefühl gehört zu den Schattenseiten des gesellschaftlichen Wandels. Umziehen, Pendeln, Unterwegssein, sich ständig auf neue Menschen, Kulturen und Situationen einstellen zu müssen – das ist für viele heute normal geworden. Auch für mich.

Aber ich weiß, was ich im Gepäck haben muss, um mich zu Hause zu fühlen: mein kleines Kissen, meinen Teekocher, ein Buch und mein Handy. Denn das hilft mir, die Verbindung zu halten zu den 33 Menschen daheim, die ich brauche. Und auch der Kontakt zu einer christlichen Gemeinde verschafft mir immer wieder ein Heimatgefühl – ganz gleich, in welcher Stadt, in welchem Land. Da spüre ich mitten in allem Wandel meine Wurzeln in einer langen Tradition. Durch die Jahrhunderte hindurch sind christliche Gemeinden immer wieder zur neuen Heimat geworden für Menschen, die ihre alte – aus welchen Gründen auch immer – verlassen mussten. Mit ihren Kirchen und Nachbarschaftsnetzen, mit gastlicher Aufnahme, einem hilfreichen Gespräch und auch mit vertrauten Liedern und Gebeten.

Der Grund dafür liegt im Verständnis von Heimat. Für Christen ist sie mehr als dieser oder jener lange vertraute Ort. „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“, heißt es im Neuen Testament. Heimat ist ein Sehnsuchtsort. Pilgerwege erinnern bis heute daran. Wer auf dem Jakobsweg wandert, unterwegs nach Santiago de Compostella, weiß: der Ort, wo die Seele Heimat findet, liegt vor uns, wir sind noch nicht da. Heimat finden wir in der Gemeinschaft mit anderen Pilgern, in Gesprächen und wechselseitiger Hilfe. Wie stark diese Verbindung sein kann, die gemeinsame Glaubensheimat, das habe ich bei einem meiner vielen Besuche in Kairo gelernt. Einige Jahre lang war ich als Pfarrerin für die deutschen Gemeinden im Nahen Osten zuständig. In Kairo hatte ich damals mit einer Kollegin den Flieger verpasst – und der nächste ging erst am folgenden Tag.

Da standen wir also, fernab der Heimat, auf dem überfüllten Flughafen – es war Ramadan und nicht einfach, eine Unterkunft zu finden. Aber wir fanden alles, was wir brauchten, bei einer Familie, die ich aus der deutschen Gemeinde kannte: ein frisch bezogenes Bett, eine warme Suppe, ein aufheiterndes Gespräch, ein gemeinsames Tischgebet. Es wurde dann ein wunderbarer Abend. Der Glaube verbindet, wo immer wir sind. Wir spüren das besonders, wenn wir unterwegs sind. Von Heimat zu Heimat bis zur letzten bei Gott.


Morgenandacht I (Mo) – Allerseelen

DLF: 2. – 7. November 2015

Wenn die letzte Ernte eingefahren ist und auch die bunten Blätter schon blass am Boden liegen, wenn die Sonne tief steht und die Nebel aufsteigen, ist der schöne (Teil vom) Herbst wohl endgültig vorüber. Kaum jemand mag den November. Wenn die Bäume wie schwarze Scherenschnitte im Nebel erscheinen und die Feiertage samt und sonders mit Tod und Trauer zu tun haben. Es fühlt sich an, als sei der dunkelste aller Monate gekommen – noch ganz ohne Lichter in den Straßen. Kaum vorstellbar, dass die Kelten jetzt Neujahr feierten. Das Halloween-Fest ist davon übrig geblieben. Mit Kürbislichtern und Gespenstern. In dieser Zeit soll die Grenze zwischen Himmel und Erde besonders dünn sein. Und auch die zwischen Leben und Tod. Das macht verletzlich, ja, es macht Angst. Die Geister und Gespenster sollen vor dem Bösen schützen.

Aber auch zwei kirchliche Feste werden in diesen Tagen gefeiert – gestern war Allerheiligen, heute ist Allerseelen. Das Doppelfest ist vermutlich im 10. Jahrhundert an die Stelle des alten keltischen Totenfestes getreten. Seit meiner Kindheit im Rheinland liebe ich es, wenn jetzt in der Abenddämmerung kleine Lichter auf den Friedhöfen brennen. Rote Lämpchen mit flackernden Kerzen auf den Gräbern, den katholischen jedenfalls – (als) Zeichen der Liebe und auch der Hoffnung auf ewiges Leben. Dann scheint der graue und herbstliche Friedhof plötzlich ganz lebendig. Im Vergleich kam es mir immer trist vor bei uns Evangelischen. Totensonntag mit Kränzen, aber ohne Kerzen. Gräber unter Tannengrün. Schön, dass sich allmählich die Kulturen mischen; auch bei uns tauchen Lichter zwischen den Gestecken auf. Nur dieses rote Flammenmeer, das ich als Kind über den Gräbern leuchten sah, das gibt es kaum noch. Längst wohnen die meisten Familien nicht mehr am gleichen Ort. Es ist keiner da, der die Kerzen am Abend anzündet.

Aber überall auf der Welt beten heute Katholiken für die Seelen ihrer Verstorbenen. Ich gebe zu: ich habe Schwierigkeiten mit der Idee, dass wir unsere Toten aus dem Fegefeuer „herausbeten“ sollen – das ist übrigens der Grund dafür, dass die evangelische Kirche das Fest nicht begeht – aber ich glaube doch, dass unsere Lieben bei Gott lebendig sind. Die Schriftstellerin und Filmemacherin Doris Dörrie erzählt in ihrem Buch „Das blaue Kleid“ von einer jungen Witwe, die den Tod ihres Mannes betrauert. Erst auf einer Reise nach Mexiko wacht sie aus der Starre auf. Da erlebt sie, wie fröhlich man die Toten in diesen Tagen feiern kann – mit Skelettprozessionen und Picknick an den geschmückten Gräbern und mit Geschenken für die Toten. In dieser Nacht lässt man dort Türen und Fenster auf, damit die Seelen der Toten sich frei bewegen können. Ohne Mauern, ohne Grenze zwischen Himmel und Erde.

Es ist, als würde der Deckel einmal aufgemacht, mit dem sonst unter Verschluss halten, was wir doch wissen: dass die Wand zwischen Leben und Tod nicht so dick ist, wie wir glauben. Dass wir mitten im Leben vom Tod umfangen sind, auch wenn wir das normalerweise verdrängen. Ich erinnere mich an einen Gottesdienst in Wologda, im Norden Russlands. Mitten in der Kirche war ein Verstorbener aufgebahrt. Der offene Sarg stand zwischen den Gemeindegliedern, als die Eucharistie ausgeteilt wurde – die Trauernden in schwarzer Kleidung um den Sarg, alte Frauen mit Kopftuch, kleine Kinder auf dem Arm ihrer Mütter, und über allem die Heiligen auf der Ikonostase. Im Kerzenschein wirkten sie ganz lebendig – und während die Gemeinde wieder und wieder das Kyrie sang, hatte ich das Gefühl, in einer großen Gemeinde mit den Lebenden und Toten zusammen zu feiern.

Gerade jetzt in den dunklen Wochen, wenn unsere Seele vielleicht verletzlicher ist als sonst, tut es gut, einen Blick über die Gräber zu werfen. Und über sie hinaus: Auf das große Lichtermeer all der Heiligen und von Gott Geliebten, die auch zu unserem Leben gehören. Heute ist Allerseelen. Für viele sicher ein ganz normaler Tag. Ich nutze ihn, um an den Erinnerungsfotos meiner Lieben eine Kerze aufzustellen.

MA II (Di): Bruder Esel

Es gibt diese Tage, an denen man sich erst mal mühsam ins Leben kämpft. Mir geht es so, wenn ich mit Kopfschmerzen aufwache. Dann brauche ich eine Zeit, bis das offene Fenster, ein heißer Tee und eine warme Dusche, mir helfen, es mit dem Morgen aufzunehmen. Ein kleiner Gang kann manchmal Wunder wirken – tief durchatmen, wieder zu mir finden. Aber immer gelingt das nicht. Es gibt auch diese unerträglichen Schmerzen, gegen die kein Mittel ankommt.

„Für einen Augenblick gelingt es mir, die Schmerzen weit weg zu schicken – ins Universum. Aber das Universum ist zersprungen“, schrieb die französische Philosophin Simone Weil, auch sie von Migräne geplagt. „Die Schmerzen kommen wieder und sie sind stärker als vorher. Aber plötzlich merke ich: etwas in mir ist unverletzlich – wie das Universum.“ Starke Schmerzen können uns alles rauben – den Verstand, unser Selbstgefühl und das Vertrauen ins Leben. Sie können förmlich die Seele aus dem Körper springen lassen. (Menschen, die Folter erlebt haben, berichten, dass sie sich selbst nicht mehr kannten.) Aber es gibt auch eine andere Erfahrung: ein Aufgehoben sein trotz Schmerz. Als hätte unsere Seele noch einen anderen Ort, an dem sie unverletzlich ist, was auch geschieht. Menschen, die Nahtod-Erfahrungen gemacht haben, erzählen, dass sie von oben auf ihren Körper hinab sehen konnten – selbst während einer traumatischen Verletzung. Das beweist gar nichts; aber es weist womöglich auf etwas hin. Wir sind im Leib – und sind doch mehr als das. (Ist unser Körper das Gefängnis der Seele, wie die antiken Philosophen dachten? Oder ganz anders: ihr Tempel?) Wir pflegen unseren Körper und wir quälen ihn; wir kämpfen mit ihm, damit er leistet, was wir uns vorgenommen haben. Die Philosophin Ariadne von Schirach erzählt in ihrem jüngsten Buch, wie Menschen ihren Körper zurichten für den Markt – den Bewerbermarkt, den Heiratsmarkt. Von den Hungermädchen erzählt sie, die den Models nacheifern, von Stresskörpern und Fitnessleibern und den Best Agern, die das Älterwerden wie eine lästige Krankheit verleugnen. Es ist ja wahr, dass Alter und Gesundheit unsere Möglichkeiten bestimmen. Ob wir wollen oder nicht – wir präsentieren uns über unseren Körper, wir werden nach unserem Aussehen beurteilt – da liegt es nahe, ihm Zeit zu widmen, ihn stark zu machen und aufzuhübschen. Und wehe, wenn er nicht mitspielt. Und sei es nur, dass er uns mit Kopfschmerzen stoppt, obwohl wir die gerade gar nicht brauchen können, weil wir ohnehin schon mitten im Stress sind. Dass der Leib uns auch mit unseren Grenzen konfrontiert, das ertragen wir schwer.

Viele kennen die alte Geschichte von Bileam[1], dem Propheten, der mit seinem Esel unterwegs ist, als das Tier plötzlich stehen bleibt. Bileam gibt ihm einen Klaps, er brüllt den Esel an, schließlich prügelt er ihn, aber der Esel steht – alle Hufe fest am Boden. Denn im Unterschied zu Bileam sieht er den Engel, der den Weg versperrt. Ein Warnsignal – die beiden sind auf Abwegen. Bileams Esel ist nicht einfach nur störrisch, er nimmt mehr wahr als der Prophet. Er schützt ihn vor einem großen Fehler. Franziskus von Assisi hat unseren Leib mit diesem Esel verglichen: klüger oft als unser Kopf mit all seinen Plänen. Bruder Esel nennt er ihn. Er erinnert uns daran, dass Leben mehr ist als funktionieren.

Unser Körper ist kein Objekt, das wir modellieren und optimieren. Er ist auch kein Gefängnis für unseren unbändigen Willen. Er ist ein zerbrechliches Gefäß, vergänglich wie alles Leben. Aber das macht uns nicht klein, das muss uns nicht entmutigen. Jeder kennt Menschen, denen man ihr Alter oder eine Behinderung nicht anmerkt, weil ihre Ausstrahlung alles überstrahlt, weil ihre Seele leuchtet. Menschen, die das Leben akzeptieren, wie es ist. Und den Bruder Esel achten, füttern und pflegen. „Tu Deinem Leib Gutes, damit Deine Seele Lust hat, darin zu wohnen“, sagt die Mystikerin Theresa von Avila. Sie verstand den Leib als Tempel der Seele – weil Gottes unvergänglicher Atem in ihm wohnt. Man kann das spüren morgens – am offenen Fenster, im Blick auf den Himmel, im Gebet. Und manchmal auch trotz Schmerzen.

MA III (Mi): Was Leib und Seele zusammenhält

Was ist das Geheimnis eines langen Lebens? Kein Nikotin? Kein Alkohol, viel Sport? Seit Jahrzehnten untersuchen Wissenschaftler die Lebensbedingungen an den Orten, wo die Menschen besonders alt werden. Das Ergebnis ist meist eine neue Diät. Nach der Entdeckung der Hochaltrigen im Kaukasus züchteten viele Kefir-Pilze in ihrer Küche. Später gab es einen Japan-Hype – mit Sushi und Meeresfrüchten. In den 60er Jahren entdeckte man Roseto, ein kleines Dorf in Pennsylvania. Da war damals die Sterberate bei den unter 65-jährigen besonders niedrig – sie lag mit 30 – 35 Prozent unter dem Durchschnitt. Zuerst dachte man, es sei das gute Olivenöl – Roseto war ein Dorf italienischer Migranten. Aber dann stellte sich heraus, dass die Leute dort 41 Prozent Fett zu sich nahmen. Auch am Trinkwasser lag es nicht – und nicht an den Genen. Keine Hypothese hielt der Forschung stand. Das Geheimnis von Roseto wurde erst in den 70ern gelüftet. Da war der erste junge Mann schon an einem Herzinfarkt gestorben. Und das Dorf hatte seinen Charakter verloren. Die jungen Leute waren in die Stadt gezogen, man ging nicht mehr regelmäßig zur Kirche und abends aß man nicht zusammen auf der Piazza. Der lange Tisch auf der Piazza, an dem jung und alt sich getroffen hatten, blieb leer. Das war das Geheimnis: Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen – aber eben nicht nur wegen der Nährstoffe.

Schon wenn Babys gestillt werden, geht es nicht nur um Nahrung. Mutter und Kind erleben intensive Momente der Nähe – mit Blicken und Körperkontakt tauschen sie sich aus. Und der schreiende Säugling kann nicht unterscheiden, ob die Bauchschmerzen, die ihn plagen, Hunger oder Sehnsucht sind. Er spürt nur diese schmerzende Leere. Wir kennen das auch als Erwachsene – [2] die Zeiten, in denen wir nur noch ein inneres Vakuum empfinden. Wenn unser Körper gestresst ist und unsere Seele auftanken muss. Vor lauter Anforderungen in Beruf, Familie, Nachbarschaft haben wir uns selbst verloren. Wir funktionieren noch, aber wir spüren uns nicht mehr – es sei denn mit Schmerzen. Die Mitte fehlt – wie den jungen Leuten aus Roseto, die keine Zeit mehr hatten für die Tafel auf der Piazza.

Diese Art von Hunger wird durch Essen nicht gestillt. Jedenfalls durch das schnelle Stressessen nicht. Aber dass Kochen wieder Konjunktur hat, das ist kein Zufall. Viele, die mit Fastfood unterwegs sind oder nur noch schnell beim Discounter vorbeihasten, nehmen sich am Wochenende Zeit für eine selbst gekochte Mahlzeit mit Freunden. Sie wollen einfach wieder spüren, was dran ist – die Jahreszeit wahrnehmen, die Geschichten der anderen hören, sich Zeit nehmen, um wirklich satt zu werden.

Mahlzeit – der verstümmelte Gruß auf dem Weg zur Kantine erinnert daran, dass da mal mehr war: „eine gesegnete Mahlzeit“; ja, dass Segen im gemeinsamen Essen liegt. Das gilt auch und vielleicht gerade für die, die allein leben oder kein Geld für saisonale Lebensmittel haben. Bei den internationalen Gärten in meiner Nachbarschaft hat man angefangen, an einem Abend in der Woche Gerichte aus der Heimat zu kochen – türkische, arabische, deutsche – und die anderen dazu einzuladen. Da werden Erinnerungen und Sehnsucht geteilt – wie das dampfende Essen in den Schüsseln. Und eine Gruppe älterer Frauen hat das Essen auf Rädern abbestellt und trifft sich mittags im Gemeindehaus, um füreinander zu kochen. Die Küche ist groß genug. Und die Tafel wird jeden Tag größer. Bald werden sie im Kirchraum decken – das passt gut. Für sich allein hätte sie keine Lust zu kochen – oft nicht einmal Lust, aufzustehen, erzählt eine der Frauen. Aber jetzt gehe sie immer früh zum Markt. Als ich ihr zuhörte, fiel mir ein, dass es im Vater Unser heißt: „Unser tägliches Brot gib uns heute“ – nicht mein eigenes. Das Brot will geteilt werden, auch und gerade in einer Gemeinde. Der Segen gilt mir nicht allein. Er ermuntert mich, auch selbst für andere da zu sein – beim Kochen, beim Austeilen oder einfach im Zuhören. Denn wir leben eben nicht allein vom Brot. Und die beste Diät reicht nicht für ein gutes Leben.

MA IV (Do): Gastfreundschaft

Vor einiger Zeit erzählte ein alter Freund meines Vaters, er sei meinen Eltern bis heute dankbar. Als er Ende der 50er Jahre als Missionar nach Indonesien ausreiste, hatten sie ihm und seiner Frau angeboten, die Kinder eine Weile bei uns aufzunehmen. Es kam dann nicht dazu – die Kinder konnten dort auf ein Internat. Ich hatte das damals gar nicht mitbekommen. Aber in meinem Elternhaus war es normal, dass Gäste aus dem Ausland, Pflegekinder oder auch pflegebedürftige Menschen eine Weile mit uns lebten – manchmal für ein ganzes Jahr oder länger. In dem alten Fachwerkhaus gab es zwei kleine Einliegerwohnungen und ein großes Fremdenzimmer. So hieß das in meiner Kindheit noch, bevor man von Gästezimmern sprach. In vielen Pfarrhäusern war es normal, dass Menschen mit ganz anderen Lebensgeschichten am Mittagstisch saßen. Gäste aus Krisengebieten in Afrika oder Lateinamerika, aber auch Menschen, die eine Familienkrise erlebten.

Gastfreundschaft ist eine alte kirchliche Tradition. Die reisenden Apostel wohnten selbstverständlich bei Mitgliedern der Gemeinde. Und später waren die Klöster Orte der Immunität, wo Durchreisende einen Teller Suppe und ein Bett bekamen und Verfolgte Schutz. Wo man die Kranken aufnahm und pflegte. Bis schließlich auch diakonische Einrichtungen ihre Häuser als Hospize verstanden, lange bevor dieser Name für christliche Gasthäuser und dann für die Sterbebegleitung genutzt wurde. „Dass wir einander Heimat geben auf dem Weg nach dem ewigen Zuhause“ – darin sah Friedrich von Bodelschwingh, der Gründer von Bethel, den Sinn aller Gastfreundschaft.

Inzwischen sind unsere Pfarrwohnungen oft zu klein. Und auch die diakonischen Dienste müssen alles planen und berechnen. Aber die alte Tradition der Gastfreundschaft ist trotzdem quicklebendig. Oft sind es Ehrenamtliche, die uns das in Erinnerung rufen. In den 70er Jahren machten Cecily Saunders und die Hospizbewegung deutlich, dass es nicht genügt, Sterbende so lange wie möglich medizinisch zu versorgen. Sie brauchen Begleitung, Gespräche und Menschen, die ihnen helfen, den Abschied zu gestalten. Fast gleichzeitig entstanden die ersten Stadtteilläden in den Wohnquartieren und Kirchengemeinden. Wer zuzog, wer einsam war oder einfach Hilfe brauchte, sollte eine offene Anlaufstelle finden. In unserem Gemeindeladen gab es eine Kleiderkammer, und ich weiß noch, mit wieviel Liebe die Ehrenamtlichen den Besuchern halfen, etwas Schönes für sich zu finden. Und auch jetzt sind es Ehrenamtliche, die Flüchtlinge mit allem Nötigen versorgen – mit Nahrung und Kleidung, mit Laptops und Handys – und sie schließlich einladen zum Willkommensfest.

Gastfreundschaft ist Teil unserer christlichen Tradition; aber sie geht weiter darüber hinaus. Schon Homers Odyssee erzählt von den Regeln der Xenia bei den alten Griechen. Ein guter Gastgeber bereitet seinem Gast ein Bad, er stellt ihm frische Kleider zur Verfügung und deckt ihm den Tisch – er nimmt den Fremden auf wie einen verlorenen Sohn oder Bruder. Die Gastfreundschaft zu verletzen, bedeutete Frevel gegenüber den Göttern. Schließlich könnten sich die Fremden sich ja selbst als Götter erweisen – incognito sozusagen. Fremde aufzunehmen war deshalb ein Akt der Frömmigkeit. Tischdecken und Betten machen ein Gebet; das Willkommensfest ein Gottesdienst. „Gastfrei zu sein, vergesst nicht, haben doch einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt“[3], heißt es auch in der Bibel – im Brief an die Hebräerinnen und Hebräer. Da schwingt die Erzählung von Abraham und Sara mit, die im Hain von Mamre drei Fremde als Gäste empfangen. Sie waschen ihnen die Füße und decken ihnen den Tisch und begreifen erst viel später, dass in diesen Gästen Gott selbst gegenwärtig ist – das merken sie an einem ganz besonderen Gastgeschenk. Die drei verheißen ihnen den Sohn, mit dem sie nicht mehr gerechnet hatten. Kaum zu glauben – fast schon eine Zumutung, dann aber doch ein Segen. Wer die Tür für Fremde aufmacht, kann mit Überraschungen rechnen. Ein neuer Blick auf das Leben, eine erstaunliche Wendung, vielleicht sogar die Nähe Gottes – incognito. Unter unseren Gästen.

MA V (Sa): Seelenorte

Die Grotte des Heiligen Franziskus in Assisi, Hildegard von Bingens Kloster auf dem Disibodenberg und das Labyrinth in Chartres – das sind nur einige der Kraftplätze, die uns die Psychoanalytikerin Ingrid Riedel[4] in ihrem sehr persönlich geschriebenen Buch vorstellt: „Beseelte Orte“. Orte, die ihrer stimmigen Ganzheit das Gefühl von Ganzheit in ihr selbst geweckt haben. Unwillkürlich habe ich beim Lesen meine eigenen Seelenorte hinzugefügt: die sogenannte Klagemauer in Jerusalem gehört dazu, das Mutterhaus in Kaiserswerth, der Mont St. Michel in der Normandie – und die Tempelanlage in Palmyra.

Ingrid Riedels Buch fiel mir ein, als der IS vor einigen Wochen begann, die antike Stadt zu zerstören. Es ist mehr als 20 Jahre her, dass wir am Abend unter dem Vollmond über die alte Prachtstraße gingen – aber ich erinnere mich an das Gefühl, noch einmal einzutauchen in die unzerstörte Schönheit des klassischen Altertums, die ich schon als Schülerin liebte. Als ich Studentin war, erzählte mir eine alte Freundin, dass sie vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs durch das damalige Deutschlands gereist war, um ihre heiligen Orte noch einmal zu sehen: den Dom in Königsberg, die Frauenkirche in Dresden, die Festung Marienberg. Ich habe die Geistesgegenwart bewundert, mit der diese junge Frau sich angesichts der Bedrohung ihre Seelenorte in Erinnerung rief.

Was bedeutet schon ein Bauwerk gegen ein Menschenleben, haben mich viele gefragt, als ich um Palmyra trauerte. Orte kann man wieder aufbauen – so wie die Dresdner Frauenkirche. Wenn Menschen verletzt sind und sterben, geht etwas unwiederbringlich zu Ende. Das stimmt. Und dennoch hat sich der Leiter der Antikenverwaltung in Palmyra lieber köpfen lassen, als die Stadt zu verlassen. Solche Plätze sind eben auch Gedächtnisorte, Spiegel unserer Kultur, Räume unsere Träume. Die Seele baut sich die Tempel, um ein Zuhause zu haben.

„Woher mag es kommen, dass wir in den letzten Jahrzehnten eine solche Faszination durch beseelte Orte erfahren?“, fragt Ingrid Riedel in ihrem Buch. Sie meint, es müsse mit einer Art von Heimweh zu tun haben, das viele ergreift. In einer Welt, die sich rasch verändert und uns haltlos hin und hertreibt, suchen wir nach Wurzeln, die über die Lebensabschnitte, ja über unsere individuelle Geschichte hinausreichen. Darum wohl sind vielen auch die Kirchen wieder wichtig geworden, in denen sie einmal getauft, getraut oder konfirmiert wurden. Auch Menschen, die gar nicht Mitglied sind, spenden für die Sicherung der Dächer oder den Erhalt von Orgeln. „Gottes Wort braucht keine Dome“, hat der rheinische Präses Peter Beier in seiner Predigt nach der Renovierung des Berliner Doms gesagt. Wohl wahr – (auch das Judentum hat nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels überlebt, ja, es hat sich vielleicht erst in der Diaspora wirklich entfaltet. Und doch wünscht man sich bis heute an jedem Sederabend: „nächstes Jahr in Jerusalem“.) Gott braucht keine Tempel – aber wir Menschen beten mit dem Leib. Wer schon einmal versucht hat, in Stille und Meditation den Ort aufzusuchen, an dem seine Seele zur Ruhe kommt, der weiß das.

Wir tragen unsere heiligen Orte wie eine Heimat in uns – auch wenn wir sie äußerlich verloren haben. Das wird auch den Flüchtlingen aus Syrien so gehen, wo jetzt auch die ältesten christlichen Klöster dem Erdboden gleichgemacht werden. Die Mystikerin Theresa von Aquila spricht von der inneren Burg, in der unsere Seele aufatmen kann. Für sie ein Schutzraum mit sieben dicken Mauern wie eine mittelalterliche Kirchenburg. Mit Erstaunen habe ich festgestellt, dass meine innere Kapelle den Kirchen der Mutterhausdiakonie gleicht: ganz ausgeschmückt mit Sternen auf blauem Grund. Ich habe dieses Seelenbild wohl mitgenommen aus meiner diakonischen Arbeit, aus Kaiserswerth, Bethel oder Neuendettelsau. Da zeigt sich nämlich die Ganzheit, von der Ingrid Riedel spricht – die Einheit von Spiritualität und sozialem Engagement, die mir wichtig ist. Eine meiner Wurzeln, die auch im Unterwegssein Halt geben. Dass wir sie nicht vergessen – unsere heiligen Orte – auch das gehört zur Seelenpflege.

[1] 4. Mose 22, 21 ff.

[2] Marco von Münchhausen, Wo die Seele auftankt, Frankfurt 2004

[3] Hebr.

[4] Ingrid Riedel, Beseelte Orte, Stuttgart 2001


Chillen

SR2 Lebenszeichen, 08.08.2015

Ein neues Wort hat sich in unsere Sprache eingeschlichen und ziemlich schnell Karriere gemacht. Es sind vor allem Teenager und jüngere Leute bis Anfang Dreißig, die es benutzen. „Was macht ihr denn so heute Abend“, frage ich, und sie antworten: „Chillen“. Eigentlich heißt das auf englisch abkühlen – aber chillen kann man auch auf dem Balkon bei einem schönen Gläschen Rotwein. Es muss dabei nicht besonders kalt sein. Es geht darum, auszusteigen aus dem Hamsterrad, die Dauerberieselung und Dauerverfügbarkeit hinter sich zu lassen und endlich einmal abzuschalten, wie wir früher gesagt hätten.

Nichtstun also. Zu Hause oder am Strand. Das Rauschen der Bäume im Ohr, die Wellen des Meeres, den Wind auf der Haut spüren, sich von der Sonne bescheinen lassen. Inzwischen kann man das auch in der Stadt – mit Sand und Liegestühlen, Musik und Drinks irgendwo am Flussufer oder auf dem Flachdach eines Hochhauses. Einfach chillen.

Dass harte Arbeit nicht unbedingt zum Erfolg führt, haben die 20 bis 30-jährigen von heute schon früh gelernt. Die Generation „Praktikum“, wie manche sie nennen, weiß aus eigener Erfahrung: Ein erfolgreicher Studienabschluss mit einer Reihe von Auslandssemestern garantiert noch keine Stelle; und ein Praktikum noch längst keine Anschlussbeschäftigung. Oft genug folgt Befristung auf Befristung und die Sicherheit, die man sich wünscht, um eine Familie zu gründen, lässt auf sich warten. Und wer endlich Kinder zur Welt bringt, merkt dann schnell, dass selbst das beste Zeitmanagement nicht ausreicht, Beruf und Karriere zu vereinbaren. Hektik und Stress bestimmen den Alltag.

Nichtstun, die Dinge einmal liegen lassen, der Natur Zeit zur Erholung geben, Chillen also – das sind deshalb wichtige Überlebens-Strategien.

Arianna Huffington, die Chefin eines rasant gewachsenen Medienunternehmens, hatte vor drei Jahren einen totalen Zusammenbruch. Was ihr damals klar wurde, hat sie in einem Bestseller festgehalten. Das Buch heißt: „Die Neuerfindung des Erfolgs“[1]. Huffington schreibt darin: „Je stärker wir eine Violinenseite drücken, desto weniger spüren wir sie. Je lauter wir spielen, desto weniger hören wir… Wenn ich zu spielen ‚versuche‘, schlägt das fehl… Der einzige Weg zur Stärke ist die Verwundbarkeit.“[2].

Den Panzer ablegen, die Anspannung loslassen. Einmal nicht um Erfolg kämpfen, sondern einfach nur da sein. Leben und leben lassen. Wer das verlernt, kann am Ende nur scheitern. Er verliert die Lust am Dasein, die Liebe zum Leben. Das ist die Energie, die wir brauchen, um die Welt zu gestalten.

Für die Bibel ist der siebte Tag der Woche, der Sabbat, die Krone der Schöpfung. An diesem Tag hat Gott selbst nach Erschaffung der Welt geruht und sich an seinen Werken erfreut. „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut“, heißt es gleich am Anfang, wenn die Bibel. Am Sabbat dürfen wir, ja, wir sollen noch einmal etwas spüren von dem Paradies, das Gott geschaffen hat und uns einfach daran freuen. Dem Rauschen der Bäume zuhören, dem Zwitschern der Vögel, Wind und Wärme spüren auf unserer Haut. Und alle Pflichten hinter uns lassen.

Das kleine Wort Chillen hat mich daran erinnert, wie wichtig das ist. Es hat dem Feierabend einen neuen Namen gegeben. In einer Zeit, in der es kaum noch Orte und Zeiten gibt, in denen die Arbeitswelt keinen Zugriff auf uns hat. Selbst am Strand sitzen ja viele mit Laptop und Handy. Das war einmal anders – der Urlaub und der Sonntag erinnern daran: Wir brauchen Zeiten zum Träumen und Spielen, zum Reden und Beten, Zeiten, in denen wir äußerlich abschalten und innerlich auf Empfang gestellt sind. Ora et labora, beten und arbeiten heißt das in der alten Mönchsregel – und bis heute leisten sich die Klostergemeinschaften auch mitten am Tag solche Unterbrechungen für Gebet und Meditation. Unmodern? Vielleicht – aber nötiger denn je.

Ich wünsche Ihnen ein erholsames Wochenende. Chillen Sie schön!

[1] Ariana Huffington, Die Neuerfindung des Erfolgs, München 2014

[2] A.a. O, S. 129


„Gott ist in den kleinen Dingen“

Morgenandachten im DLF 23.2. – 28.2.15

Montag, 23.2.:

Eine Dusche genießen (4009)

Am Morgen zu duschen – wie herrlich das ist!

Nicht duschen zu können, tagelang nur Katzenwäsche – das ist eine Qual. Wenn Sie schon einmal einen Arm in Gips oder den Rücken angeknackst hatten, dann wissen Sie, was ich meine. Ich habe das vor ein paar Wochen erlebt, als ich im Krankenhaus lag. Eine Wasserschüssel und ein Waschlappen waren der ganze Luxus am Morgen und am Abend- selbst beim Zähneputzen. Vielleicht geht es manchem von Ihnen auch gerade so. Und ich weiß: ganz viele Menschen in Flüchtlingslagern und Wüstenlandschaften würden sich freuen über einen Brunnen in der Nähe mit genug Wasser, um wenigstens eine Kanne voll über Kopf und Körper fließen zu lassen. Wie viele Menschen müssen Wasser erst mühsam herbeischaffen, in einer Schüssel auffangen um es ganz sparsam zu verwenden. Ich weiß, wie privilegiert wir in Europa sind und wie kostbar das Wasser ist.

Aber nun die wunderbare Erfahrung, wieder duschen zu können. Ich stehe wie unter einem Wasserfall und höre das Rauschen um mich herum. Ganz eingehüllt bin ich in den warmen Nebel. Vom Kopf bis zu den Zehen. Und ich spüre mit allen Sinnen, wie das Wasser auf den ganzen Körper prasselt. Was für ein Genuss. Ich richte mich auf und strecke den Kopf dem Wasser entgehen. Rieche den erfrischen Duft von Orangen, der mich jetzt umgibt. Und bewege die Zehen im Wasser, das sich am Boden gesammelt hat. Selten habe ich so sehr gespürt, wie mein Körper sich nach Wasser sehnt, wie er sich im Wasser belebt.

Manche Menschen singen unter der Dusche- wahrscheinlich nicht nur, weil da niemand zuhört, sondern auch, weil man da so gut atmen kann, so viel Freiheit spürt. Ich erinnere mich, dass ich selbst eine Zeitlang unter der Dusche gesungen habe – keine Schlager, sondern Choräle, die ich auswendig kenne. „Befiehl Du Deine Wege“ und „ Du meine Seele, singe“ zum Beispiel. Es war nach dem plötzlichen Tod meines Vaters vor einigen Jahren. In den ersten Tagen schien mir alles weh zu tun- Herzschmerzen, Brustenge. Das Wasser weitete meine Lungen und ich konnte singen. Die Choräle aber verbanden mich mit meinem verstorbenen Vater und mit allen, mit denen ich sie zusammen gesungen hatte. In der Familie und in den Gemeinden. Und ich fühlte mich geschützt, belebt, getragen.

Es schien, als gäben diese Lieder und Texte meiner Seele Kraft wie das Wasser meinem Körper. Nie ist mir das Bibelwort vom lebendigen Wasser so einleuchtend gewesen wie in dieser Zeit. „Wer an mich glaubt“, sagt Jesus, „von dessen Leib werden Ströme des lebendigen Wassers fließen“[1] Ich denke darüber nach, wenn ich morgens unter der Dusche stehe. Jesus spricht vom Heiligen Geist – von der Kraft, die Geist und Seele belebt, auf die das Herz so antwortet wie der Körper mit allen Zellen auf das Wasser. Der Heilige Geist lässt auftanken und aufatmen, er macht die Seele weit und öffnet neue Horizonte. Die Ruach, wie es in der hebräischen Bibel heißt, heilt inneren Wunden und Verletzungen. Sie hüllt in Gottes Liebe ein.

Es war wohl der achte Tag des jüdischen Laubhüttenfestes, als Jesus diese Worte sagte. An diesem Tag füllte der Hohepriester den goldenen Krug an der Quelle Siloa, er brachte ihn in den Tempel und goss das Wasser am Altar aus. Das Quellwasser wurde zum Lebenswasser. Daran wird Jesus gedacht haben. Ganz sicher aber sind Jesu Gedanken auch weiter zurück gegangen in die Zeit, als Israel durch die Wüste zog und wie durch ein Wunder Wasser aus einem Felsen sprang. Ein Wasserfall in der Wüste. Leben und Hoffnung für alle, die Angst vor dem Verdursten hatten.

„Wer an mich glaubt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen“, sagt Jesus. Ja, Durst nach Leben wird gestellt – aber es soll noch mehr passieren: wir können für andere zu einer Quelle der Hoffnung werden. Für Kranke, die ihr Bett nicht verlassen können. Für die Menschen in den Flüchtlingslagern im Nahen Osten, die kaum zu essen und zu trinken haben. Wer schon einmal voller Sehnsucht nach Leben, wer fast ohne Hoffnung war, der weiß, was ich meine.

Dienstag, 24.2.:

Ein ganz besonderes Frühstück

„Ich bin so knallvergnügt erwacht. /Ich klatsche meine Hüften./ Das Wasser lockt. Die Seife lacht./ Es dürstet mich nach Lüften..“ Nein, ich rede nicht von mir. Ich bin, offen gestanden, kein Morgenmensch. Ich zitiere ein Gedicht von Joachim Ringelnatz – „Morgenwonne“ heißt es. Und ich mag es gern, vielleicht gerade, weil ich keine Lerche bin. Das Gedicht von Ringelnatz endet so: „Aus meiner tiefsten Seele zieht/ mit Nasenflügelbeben/ ein ungeheurer Appetit / nach Frühstück und nach Leben“.

Bei mir reicht es meist nur zu einem Tee und einem Toast auf die Schnelle. Und es gibt viele Morgen, an denen mir ein kleines Müsli oder ein Porridge genügt. Ich finde es immer faszinierend, wie die Italiener auf dem Weg zur Arbeit schnell noch irgendwo an einer Bar einen Espresso trinken.

Aber ich habe auch ganz andere Erfahrungen gemacht – da hat der Morgen meine Nasenflügel beben lassen, mit einem ganz besonderen Frühstück. Hin und wieder ist es das Sonntagsfrühstück mit der ganzen Familie: Durch das Haus zieht schon der Duft nach Kaffee und jemand ruft „Frühstück“, laut und verführerisch und auch ein bisschen ungeduldig. Das Brötchen knackt beim Aufschneiden, das Hörnchen schmeckt so gut, wenn man es mit wenig Butter in Honig tunkt und die Sonntagseier sind genau lang genug gekocht. Oder der Geburtstagsbrunch in einem schönen Lokal. Jeder genießt das Buffet von Marmelade bis Salat. Wir sitzen lange, reden und lachen und genießen den Tag.

Einen reich gedeckten Tisch braucht es nicht, um dieses Glück zu spüren- den Appetit auf das Leben. Das schönste Frühstück meines Lebens war ganz einfach. Aber selten haben mir ein Stück Brot und etwas Honig so gut geschmeckt. Es war ein strahlender Morgen – wir hatten zum Sonnenaufgang einen der Schweizer Berge bestiegen. Durch die Dunkelheit waren wir nachts hinauf geklettert und dabei ordentlich ins Schwitzen gekommen. Ziemlich erschöpft, aber rundum zufrieden und voller Jubel saßen wir oben am Gipfel. Die Sonne färbte den Himmel rot, dann stieg sie aus der Dämmerung auf. Eine Jugendgruppe sang Morgenlieder. Und jetzt, nach dem Abstieg, sitzen wir auf einer Holzbank vor einer Berghütte im Sonnenlicht. Es gibt frisch gebrühten Kaffee, Butter von der Hütte und Honig vom Imker. Und dazu dieses   Krustenbrot, das so herrlich zwischen den Zähnen knackt. Alles schmeckt frisch wie der neuen Tag – wie beim ersten Mal.

So muss sich Elia gefühlt haben, der Prophet aus der Frühzeit Israels, als er nach einer langen Wüstenwanderung müde, zerschlagen und ausgehungert wach wurde. Er war aus seiner Heimat geflohen, weil er sich mit dem König angelegt hatte. Er musste fliehen, weil man ihm nach dem Leben trachtete- und unterwegs überkam ihn die Verzweiflung. Halbtot hatte er sich unter einen Wacholderstrauch gelegt und wäre am liebsten nie mehr aufgewacht. Die Bibel erzählt, ein Engel hätte am Morgen Wasser und Brot gebracht und ihn leise angesprochen: „Steh auf und iss“. Elia, der nicht wusste, wie ihm geschah, nahm einen Bissen, trank einen Schluck und schlief wieder ein.

Das kenne ich aus Krankheitstagen, wenn mein Mann mir das Frühstück ans Bett bringt, bevor er zur Arbeit fährt. Manchmal werde ich spät wach, wenn der Tee schon kalt ist, und wundere mich, dass ich schon ein paar Schluck getrunken habe. So muss der Engel noch einmal kommen, noch einmal und eindringlicher flüstern: „Steh auf und iss, denn du hast einen weiten Weg vor Dir“ – bis der Prophet dann aufsteht und sich stärkt. Ich weiß nicht, ob Elia seinen Engel gesehen, ob er seine Berührung gespürt hat. War da eine Lichtgestalt? Kam ein Hirte vorbei? Wer war es, der dem erschöpften Elia wieder auf die Beine half? Sicher ist: mit jedem Bissen bekommt er neue Energie und neuen Lebensmut. Liebe und Leben gehen durch den Magen- das gilt auch für die Liebe Gottes. Ein guter Grund, das Frühstück einmal ganz bewusst zu genießen – heute und morgen oder auch am nächsten Sonntag.

Mittwoch, 25.2.:

Liebe Grüße (3961)

Manchmal, wenn mein Computer nicht auf stumm gestellt ist, höre ich das Pling, mit dem die Mails eingehen. Wenn auf Facebook neue Nachrichten eingehen, erkenne ich das an der Zahl. Und hin und wieder, wenn ich bis gegen Mittag zu Hause bin, kann ich es hören- das Plopp, mit dem die Post in unseren Briefkasten fällt. Ach, ich liebe es, Post zu bekommen, und ich schreibe auch gern. Aber es gibt Tage, da stapeln sich die Briefe auf dem Küchentisch, die Mappen auf dem Schreibtisch und die Mailbox quillt über. Von Facebook-Nachrichten, SMS und Anrufen auf dem Anrufbeantworter einmal ganz zu schweigen.

Aber dann finde ich ihn doch – den kleinen bunten Zettel auf dem nüchternen Papier : „Für Sie“, steht drauf – „ich dachte, das könnte Sie interessieren.“ Und im Briefkasten liegt unter all den Druckerzeugnissen eine altmodische Ansichtskarte – Freunde aus im Urlaub, oder jemand schreibt von einer Dienstreise- einfach nur so. Die Karte hängt dann länger am Pinboard, der Zettel klebt am PC – persönliche Grüße muntern mich auf, wenn ich im Stress bin. Wenn die eingegangenen Mails die 100 überschreiten, wenn der Tunnelblick immer enger wird und alles nur noch auf schnelles Antworten ausgerichtet ist. Dann schreibe ich selbst nur noch lG -liebe Grüße Deine Cornelia. Klick und weg.

Was ein lieber Gruß wirklich bedeuten kann, das habe ich letztes Jahr im Krankenhaus erlebt. Da haben mich die Briefe und Mails von Kollegen, Freundinnen und Freunden- ja, auch von Facebookfreunden, durch den Tag getragen. Besuche waren mir meist zu viel – aber mit den Briefen und Mails war ich nicht allein. Und die Postkarten, die neben dem kleinen Rosenstrauß auf meinem Nachttisch standen, halfen mir auch dann, wenn’s richtig schwierig wurde. Da ist die Karte mit dem Foto vom Erdbeerkuchen: sie ermuntert mich, das Leben zu genießen- trotz allem. Und die Engel-Karte mit den Unterschriften aus einer Arbeitsgruppensitzung, die mir sagt: Du warst in unseren Gedanken dabei. Der Genesungswunsch an dem bunten Blumenstrauß , das Herz aus Holzperlen und das Buch, das mich die Zeit vergessen ließ. Solche Grüße sind wie Gebete.

Als es noch keine Mails und kein Telefon gab, kein Facebook und noch nicht einmal Ansichtskarten, schon da haben Christinnen und Christen ein Netz aus Grüßen über Europa gespannt. Man grüßte einander in Krankheit und in Gefangenschaft, man wurde für andere zum Gastgeber, ja, zur Familie, und unterstützte sich. Wie heute noch wurden Grüße mündlich weitergegeben, sie reisten aber auch in Briefen mit. Im Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom findet sich eine Grußliste, die mir besonders gut gefällt.[2] „ Grüßt Priska und Aquila“, heißt es da, „Mitstreiterin und Mitstreiter im Messias Jesus, die für mein Leben ihren eigenen Hals hingehalten haben. Grüßt Mirjam, die oftmals schwere Arbeit für Euch geleistet hat, Andronikus und Junia, die mit mir in Gefangenschaft waren. Grüßt die Sklavinnen und Sklaven aus dem Hause des Narzissus, die zur Gemeinschaft gehören, und die geliebt Persis. Grüßt Rufus, den in der Gemeinschaft Ausgezeichneten, und seine Mutter, die auch für mich eine Mutter ist“. Insgesamt 28 Namen stehen auf der Liste, und noch viele andere, die dazu gehören, werden genannt. Und am Ende ist zu lesen, wer die Grüße ausrichte: „Es grüßen Euch Timotheus, mit dem ich zusammenarbeite, und Luzius, Jason und Sosopater, meine Verwandten. Und ich grüße Euch, Tertius, der Schreiber dieses Briefes. Es grüßt auch Gaius, mein Gastgeber. Wir preisen die Quelle der Kraft, die Euch stärkt.“

Liebe Grüße sind wie Fürbitten: sie geben etwas weiter von dieser Energie, die uns stärkt. Weil ich selbst diese Erfahrung gemacht habe, schreibe ich mir jede Woche eine kleine Grußliste ins Notizbuch. Freunde, die krank sind oder trauern, Menschen, für die etwas Neues beginnt- wie damals für die Gemeinde in Rom- und andere, denen ich danken will. Liebe Grüße, schreibe ich darunter, deine Cornelia.

Donnerstag, 26.2.:

Rollatoren, Walker und Nomaden – Ein Lob auf Aina Wifalk (3997)

Hat eigentlich schon jemand ein Lob des Rollators geschrieben? Ich kenne keinen solchen Text, kein Lied oder Gedicht über diesen wunderbaren Gehwagen. Aber ich finde, er ist eine wirklich bahnbrechende Erfindung – nicht weniger wichtig als einst der Kinderwagen. Aber es gibt ihn ja auch noch gar nicht so lange. Der Rollator wurde erst 1978 von der Schwedin Aina Wifalk erfunden- sie war selbst aufgrund einer Kinderlähmung gehbehindert. Es wundere sie nicht, dass eine Frau das Gefährt erfunden habe, schreibt Luise Pusch in einer Glosse, wir hätten eben viel mehr Erfahrungen mit Kinder- und Einkaufswagen und längst erkannt, dass sie sich auch als Gehhilfe nutzen lasse. Ganz ähnlich wie die rollbaren Koffer, die Trollies. Die haben sich ja inzwischen so durchgesetzt, dass kaum noch jemand einen Koffer schleppt. Aber auch die Rollatoren haben in den letzten Jahren einen unaufhaltsamen Siegeszug angetreten. Es wird Zeit, dass in Bussen und Zügen Platz dafür geschaffen wird – so selbstverständlich wie für Koffer, Kinderwagen und Fahrräder.

Auf Englisch heißt die Gehhilfe einfach „ walker“. Das erinnert mich an mein geliebtes Nordik Walking. In den letzten Monaten war ich froh, dass es Nordik-Walking-Stöcke, Rollatoren und natürlich auch Rollstühle gibt. Ich lag mit einem Wirbelbruch im Krankenhaus und konnte das Bett lange nicht verlassen – und ich hatte ungeheure Sehnsucht, raus zu gehen. Es war Advent, draußen lagen Lichterketten um die Bäume und die kleine Einkaufsstraße in der Nähe des Krankenhauses strahlte im Winterglanz. Ich wollte so gern an den Schaufenstern vorbei gehen, Christstollen kaufen und Lebkuchen und vielleicht ein neues Buch. Ohne Rollstuhl und später ohne Rollator wäre das gar nicht möglich gewesen. Und ich fand es großartig, die klare Luft zu atmen, den Duft der Weihnachtsbäckerei zu riechen und mir endlich wieder die Straße zu erobern. Und Wochen später noch genieße ich es, meinen Weg gehen zu können- mit und ohne Nordik-Walking-Stöcke.

Wer nach dem Stichwort „Weg“ in der Bibel sucht, der wird mit Fundstellen überschüttet. Das ist kein Wunder- schließlich spielen die Geschichten, um die es da geht, in den Nomadengesellschaften des Alten Orients. „Ein umherwandernder Aramäer war mein Vater“, heißt es in einem der ältesten jüdischen Bekenntnisse. Auch Jesus war ein Wanderprediger. Und die ersten Christen waren wie Paulus unterwegs, um in halb Europa von ihm zu erzählen. Wer eine Bibel zur Hand nimmt und die Landkarten ganz hinten aufschlägt, der kann die Wege nachvollziehen, die diese Menschen gegangen sind- zu Fuß, auf Eseln, Kamelen und Pferden aber auch zu Schiff. Es ist sicher kein Zufall, dass einer der beliebtesten Konfirmationssprüche ein Weg-Wort ist: „Befiehl dem HERRN deine Wege und hoffe auf ihn; er wird’s wohl machen.“[3]. Der Glaube schickt auf den Weg – raus aus der Komfortzone, in unbekannte Räume, zu Menschen, die wir noch nicht kennen. Man spürt den biblischen Texten ab, dass sie ohne Illusionen sind. Sie erzählen von Wüstenwanderungen und Stolpersteinen – aber sie machen Mut, loszugehen und sich auf Gottes Begleitung zu verlassen.

Ich brauche immer wieder Hilfe, damit das gelingt. Im Advent brauchte ich einen Menschen, der den Rollstuhl schob. Später eine Gehhilfe, einen Walker. Manchmal aber auch einen Freund zum Reden, eine Seelsorgerin oder einen Coach, um mich auszurichten- Hirten eben in finsteren Tälern, wie der beliebte Psalm es sagt. Aber es ist gut, unterwegs zu sein, ich liebe es, die Komfortzone zu verlassen und ich weiß: Gott fordert heraus, in die Welt zu gehen und sich immer neu mit ihr auseinanderzusetzen. Der Glaube ist welthaltig. Er steckt voller Erinnerungen an spannende Wege. Und er hinterlässt Spuren in der Realität – nicht nur auf Landkarten. Es ist einfach wunderbar, raus zu gehen und Neues zu entdecken , selbst wenn Beine oder Rücken nicht mitspielen. Auch wenn ich keinen Rollator mehr brauche: Aina Wifalk, die Erfinderin des Walkers, sie lebe hoch.

Freitag, 27.2.15

Das geht uns alle an – Gedanken zur Woche

Es waren die Masern. Dienstag hat es die Charité bestätigt[4]: Der kleine Junge aus Berlin starb vorige Woche im Krankenhaus an einer Maserninfektion. Seitdem haben wir eine neue Debatte in Deutschland. Über Schutzimpfungen, Impfregister und Impfflicht. Fast 600 Masernfälle gab es in den letzten Monaten in Berlin. Am vergangenen Montag wurde eine Schule geschlossen. Und manche Tageseinrichtung verlangt inzwischen eine Impfbescheinigung, bevor sie ein Kind aufnimmt.

Eine Impfpflicht wird immer dringlicher gefordert. Für Kinder gilt in den Vereinigten Staaten: „no shots, no school“[5]: Ohne bestimmte Impfungen dürfen dort keine öffentlichen Schulen besucht werden; in vielen Bundesländern auch keine Kindergärten.

Impflücken gibt es in Deutschland aber vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Die Kommentare sind sich einig: Die Schutzlosen zu schützen sei eine Pflicht: Kinder sind, bevor sie selbst geimpft werden können, nur durch die Immunität ihrer Kontaktpersonen geschützt. Während nun Justiz- und Gesundheitsminister die Impfpflicht ins Spiel bringen, sprechen Impfgegner vom Impf-Mobbing[6], von Einschüchterung und von ihren Freiheitsrechten. Und manche suchen die Verantwortung ganz woanders – Masern und andere Infektionskrankheiten seien von außen eingeschleppt, durch Flüchtlinge und Migranten.

Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der das Thema Impfung immer wachgehalten wurde. Auf dem Schreibtisch meiner Mutter stand das Foto ihres kleinen Bruders Wilhelm, ein strahlender 8-Jähriger mit blonden Locken. Er starb an Keuchhusten, Wilhelm war nicht geimpft. Die Impfdebatte ist kein neues Thema – und auch die Tatsache nicht, dass Menschen rund um die Welt unterwegs sind. In meinem Elternhaus waren die Impfpässe deshalb immer zur Hand. Wir Kinder bekamen alle nötigen Impfungen – gegen Keuchhusten, Mumps, Tetanus und Kinderlähmung. Das Foto auf dem Schreibtisch meiner Mutter erinnerte daran, was diese Krankheiten anrichten konnten. Natürlich waren wir trotzdem krank. Ich erinnere mich an die langen Wochen, die ich mit Masern im Kinderzimmer verbracht habe – bei zugezogenen Vorhängen. Eine Masernimpfung gab es noch nicht.

Lange Zeit gab es kein anderes Mittel als die Isolation. Schon im 3. Buch Mose, dem Gesetzbuch des alten Israel, wird detailliert beschrieben, was geschehen muss, wenn bei einem Menschen Aussatz festgestellt wird: Wer betroffen ist, soll abgesondert wohnen, und wenn er über die Straße geht, soll er rufen: „Unrein, unrein“. Die Anweisungen an den Priester, der den Aussatz feststellen musste, habe ich jetzt noch einmal nachgelesen; ich war beeindruckt über die Sorgfalt, mit der die Krankheit diagnostiziert wurde. Kein vorschnelles – und auch kein endgültiges Urteil. Es wird deutlich – der Vorgang ist für alle Beteiligten schmerzlich – vor allem für die Betroffenen, die aus der Gemeinschaft heraus genommen wurden. Dass Jesus dann Aussätzige heilt und sie damit in die Gemeinschaft zurückholt, ist ganz zentral für sein Wirken. Dabei schickt er die Geheilten übrigens immer zuerst zum Priester. Priester waren damals die entscheidende medizinische Instanz, sozusagen das Gesundheitsamt.

Nach dem Tod ihres Bruders studierte meine Mutter Medizin- sie wollte verstehen, helfen, Leiden mindern. Dass ihr Bruder nicht geimpft war, hat sie den Eltern nicht vorgeworfen. Mit Schuld-Debatten kann man Ängsten nicht begegnen. Auch nicht allein mit medizinischen Argumenten. Wir müssen neu begreifen, dass es Krankheiten gibt, die nicht nur den Einzelnen, sondern alle betreffen. Die Gemeinschaft ist entscheidend – sie schützt und muss geschützt werden. Deshalb ist jeder für die Gesundheit des anderen mit verantwortlich . Solidarität ist nötig, auch wenn das vom Einzelnen Opfer verlangt.

Wenn Sie mit mir über die Frage sprechen wollen, ob eine Impfpflicht dabei hilft – Sie erreichen mich in den nächsten zwei Stunden unter 05131462761. Oder diskutieren Sie mit auf Facebook unter ‚deutschlandradio.evangelisch‘.

Samstag, 28.2. (4039)

Gott ist in den kleinen Dingen

So lange ich mich erinnern kann, stand in meinem Elternhaus ein hölzerner Brotteller auf dem Tisch. Irgendwann war er mal mit einer Kerze in Berührung gekommen – eine Stelle am Rand war ganz schwarz. Aber man konnte gut lesen, was rund um den Rand ins Holz geschnitzt war: „Unser tägliches Brot gib uns heute“. Lange Zeit dachte ich, wir wären die einzige Familie mit so einem Brotteller. Heute weiß ich: gerade in den Aufbaujahren nach dem Krieg wollten sich viele auf diese Weise daran erinnern, dass ein voller Brotkorb nicht selbstverständlich ist.

Wenn mein Mann und ich zusammen frühstücken, steht der alte Teller mit der Vater-Unser-Bitte wieder auf dem Tisch. Wir sprechen ein Tischgebet und spüren, dass in unserem Essen und Trinken etwas Verbindendes liegt. Zwischen uns beiden, mit Gott, dem wir alles verdanken, mit den Eltern, die längst nicht mehr leben. Es ist unglaublich, was so ein einfacher Teller für Gefühle wecken kann.

Vielleicht ist Gott ja überhaupt viel mehr in den kleinen Dingen als in den großen Ereignissen.

Jedenfalls meint das der Religionswissenschaftler Andreas Feldtkeller.[7] „Es ist an der Zeit, dass wir uns von einem weit verbreiteten Missverständnis über Religion verabschieden“, schreibt er. „Von dem Missverständnis, Religion sei in unserem Leben allenfalls die Nische für das Außergewöhnliche. Genau das Gegenteil ist der Fall: Religion ist geformt aus den selbstverständlichsten unter den menschlichen Selbstverständlichkeiten.“

Aus Essen und Trinken also, Herzschlag und Atem, aus Aufstehen und Einschlafen, dem Mondzyklus und dem Jahreslauf. Wir sehr auch der Kalender von spirituellen Rhythmen geprägt ist, das ist jetzt wieder spürbar. Es ist Fastenzeit, für viele eine Zeit des Verzichts, Und auch Menschen, die nicht religiös sind, empfinden das als sinnvoll und wohltuend nach Gänsebraten und Christstollen in der Weihnachtszeit. Selbst die großen Feste verbinden Menschen mit kleinen Dingen – mit dem, was dem Alltag Glanzlichter aufsetzt. Mit Speisen, Düften und traditionellem Schmuck. Wenn jetzt in den Supermärkten und an den Raststätten die bunt gefärbten Eier zu kaufen sind, dann denke ich daran, dass schon das Färben am Ostersamstag ein kleines Fest für uns Kinder war: ich rieche noch einmal den Essiggeruch in der Küche und freue mich an der Schale mit Ostergras und den vielen rot gefärbten Eiern. Und bald schon werden wir die Ostersträuße mit den ausgeblasenen Eiern aus der Lausitz schmücken – keiner hat so schöne Muster wie die Sorben. Einfach nur Eier- kleine Dinge, aber zu Ostern erzählen sie die große Geschichte vom neuen Leben.

„Nur vom Selbstverständlichen her können wir verstehen, was wir mit Religion anfangen können“, schreibt Andreas Feldtkeller. Dass er Recht hat, das zeigen die Geschichten und Gleichnisse Jesu, der Menschen für Gott öffnen konnte wie kein anderer. Er erzählt von dem Bauern, der auf dem steinigen Acker sät, und von dem Hirten, der dem verlorenen Schaf nachgeht. Von der Frau, die ein verlorenes Geldstück sucht. Von den Ehrenplätzen am Tisch und von Flicken auf einem alten Kleid. Und von der Kerze, die unter einem Scheffel ausgeht. Wer ihm zuhört, wird entdecken, wie durchsichtig unser Alltagsgrau sein kann für den Goldgrund der Gottesnähe.

Gott ist in den kleinen Dingen. Oder besser: nicht in den Dingen selbst, sondern in den Erfahrungen und Erinnerungen, den Hoffnungen und Gebeten, die in sie eingeschrieben sind. Also nicht im verlorenen Groschen, sondern in der Freude am Wiederfinden. Nicht im Licht unter dem Scheffel sondern in der Erfahrung, wie dunkel es wird, wenn ein Strahlen erstickt. Nicht im Osterei, sondern in der Hoffnung auf neues Leben , ja in der Gewissheit der Auferstehung. Und auch nicht in unserem Brotteller daheim – aber in dem Gebet, das um seinen Rand steht. Ein voller Brotkorb ist alles andere als selbstverständlich – aber ich würde das leicht vergessen, wenn der alte Teller nicht wäre.

[1] Johannes 7, 38

[2] Römer 16 in Auszügen

[3] Psalm 37,5

[4] Süddeutsche Zeitung vom 25.2.15 , Seite 8

[5] Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.2.15, Seite 1

[7] So auf www.impfkritik.de

[7] Andreas Feldtkeller, Warum denn Religion, Eine Begründung, Gütersloh 2006