Die Segel setzen – Familie und Familienpolitik im Fluss der Zeit

1. „Wenn die bunten Fahnen wehen“

Borkum, das erste Mal Nordsee. Eingepackt in ein großes Badetuch sitze ich zitternd zwischen meinen Cousinen und buddle die Füße in den Sand. Es wird kühler – Zeit, dass wir zum Freizeitheim zurückgehen. Oder doch lieber vorher noch zur Milchbar, wo es die Mixmilch mit den pinkfarbenen Strohhalmen gibt. Wir sind auf Familienfreizeit – im Sommer 1957. Vor 60 Jahren also, als hier in Bayern die EAF gegründet wird.

„Wenn die bunten Fahnen wehen, geht die Fahrt wohl übers Meer“, wird im Bus und auf dem Boot gesungen: Sicher 20 Familien sind mitgekommen – viele mit mehreren Kindern und noch einmal so viele Jugendliche, die in einer eigenen Baracke mit dreistöckigen Betten übernachten – Armbrüche inbegriffen. Familie hat Konjunktur. Meine Eltern haben die Cousinen mitgenommen – Einzelkinder werden noch mitleidig betrachtet. So leben immer wieder Pflegekinder bei uns; meist über einige Monate, manchmal ein oder zwei Jahre. Väter sind im Krieg gefallen, alleinerziehende Mütter brauchen Unterstützung, vor allem, wenn sie arbeiten „müssen“, um über die Runden zu kommen. Es ist die Zeit der „Schlüsselkinder“. Die Infrastruktur ist kaum ausgebaut, so wird die Großfamilie zur Rückfallposition.

Familienpolitik wurde erst in den 50er Jahren zum Thema – zunächst einmal galt es unmittelbare Not zu lindern. 1953 wurde in Bethel die EAF auf EKD-Ebene gegründet – sie verstand sich als Teil einer neuen Familienbewegung. Fast zeitgleich war das Bundes-Familienministerium eingerichtet worden; der erste Minister war Franz-Josef Wuermeling, den die älteren hier noch vom gleichnamigen Fahrausweis für Familien mit mehreren Kindern kennen; er verstand das Ministerium als „Abwehrinstanz gegen die Gleichberechtigung der Frau“. Es ging um die Neuordnung der Familienlastenausgleich – mit Steuererleichterungen für Familien mit mehr als zwei Kindern, mit dem Ehegattensplitting und mit Kinderbeihilfen, damit Mütter nicht erwerbstätig sein „mussten“. Das erste Wohnungsbaugesetz förderte das Familienheim. Kinderfreibetrag, Kindergeld, Baukindergeld – Ehegatten- und Familiensplitting: die politischen Themen, die damals gesetzt wurden, sind bis heute strittig.

Noch dominiert das klassische Familienbild, gerade auch in der Kirche. Nicht ohne Schaudern habe ich in den letzten Tagen einige Seiten von Theodor Bovet gelesen, die noch 1962 bei der EAF erschienen – unter dem Titel: „Die Familie fordert uns“, „Vom Amt des Vaters“ und „Vom Amt der Mutter“. Ich lese das und sehe uns dasitzen – am Strand auf Borkum – meine Cousinen und ich mit meiner Mutter: „Jedes junge Mädchen soll wissen: Das Allerwichtigste, was zu tun ist, ist eine richtige Frau zu werden. Und das heißt: Eine mütterliche Frau zu werden. Alles andere: Bildung, Beruf, Ansehen, persönliches Glück – kommt erst lange hinterher“. Nicht nur meine Mutter hatte mit der Heirat ihr Studium aufgegeben und ich wusste, das war tatsächlich Verzicht. Es war die Aufbauzeit, in der ohnehin viele Wünsche zurückgestellt wurden, die Arbeitslosigkeit war hoch. Und „die Familie forderte“ tatsächlich – sie forderte Verzicht auf eigene Entfaltung, vor allem von den Frauen. Die Müttererholung hatte Konjunktur – nicht nur die Spannungsfelder zwischen Beruf und Familie belasten offenbar; auch die Enge der Kleinfamilie konnte stressen. 88.000 Mütter in 177 Heimen nahmen 1962 ab der Müttererholung teil – auf Borkum wie in den Bergen. Familienerholung ist das große Thema der 50er Jahre – auch in der EAF Bayern. Zu Beginn der EAF-Zeit, im goldenen Zeitalter der Familie, waren Erwerbsarbeit und Politik allerdings noch immer Männersache – das galt auch für die Familienpolitik; man sieht es auf alten Verbandsfotos. Familienpolitik war institutionenorientiert. Und „die katholische Kirche hat dieses familienpolitische Konzept voll unterstützt und gefördert, die evangelische hat ihm zumindest nicht ausdrücklich und nachhaltig widersprochen“ schrieb Siegfried Keil 2003.

 

2. Raus aus der Reaktionsfalle: Das Emanzipationsprogramm der EAF

Es hat lange gedauert, bis „emanzipiert“ nicht mehr wie eine Beleidigung klang und Frauenerwerbstätigkeit nicht mehr als ein notwendiges Übel betrachtet wurde. Ich erinnere mich an die wilden Umbruchsjahre – meine Zeit in der Schülermitverwaltung und dann auch in der Politik. An die Debatten um Ausbildungsförderung, um Heimerziehung und die Freigabe des Par. 218 – und im Rückblick erscheint es mir nicht erstaunlich, dass die Töchter der 50-Jahre Mütter nun statt Verzicht die Selbstbestimmung forderten. Als erste gesellschaftliche Gruppe legte die EAF 1968 ein eigenes familienpolitisches Programm vor. Es war das letzte Jahr vor dem Regierungswechsel zur sozialliberalen Koalition – Politik wechselt die Farbe, vielleicht kann man sagen: sie wurde protestantischer. Jedenfalls will die EAF jetzt mehr, als nur vertreten zu sein – sie will gestalten, als evangelischer Verband neben dem starken Familienbund der Deutschen Katholiken und im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft der Familienverbände. Es geht in diesen Jahren um die Reform des Familienrechts, um die Rechte der Einzelnen, der Kinder wie der Frauen. Eine Mindestsicherung für jedes einzelne Kind steht auf der Tagesordnung – anstelle der Förderung der Mehrkinderfamilie. Bildung und Beratung spielen eine große Rolle, der Ausbau von Kindergärten, Horten und Ganztagsschulen. „Rationale Familienpolitik muss vorrangig vom Kind hergedacht werden“, schreibt damals die Nürnberger SPD-Ministerin Käthe Strobel, die erste Frau an der Spitze des Familienministeriums. Und weiter: „Der Prozess der Emanzipation, vor allem der Frau, braucht und darf durch die Erziehung der nachfolgenden Generation und durch die Position in der Familie nicht behindert werden.“ Die Reform des Eherechts, des Scheidungsrechts und der elterlichen Sorge, die in den 70 Jahren erfolgt, entspricht dieser neuen Ausrichtung. Und ich erinnere mich, dass ich als politisch engagierte Studentin zum ersten Mal begriff, wie lange es dauert, bis Politik gesellschaftliche Bewegungen aufnimmt und rechtlich fasst.

Es war übrigens auch die Zeit, als die evangelischen Kirchen ihren Theologinnen endlich die volle Ordination und gleiche Rechte zubilligten. Bis sie für Kinderrechte eintraten, ist dann allerdings noch Zeit vergangen. Damals wurde das Zerrüttungsprinzip im Scheidungsrecht noch unter der Überschrift „Kündigungssehe“ kritisiert. Im Spannungsfeld zwischen den Rechten von Frauen und Kindern und dem Schutz der Institution nehmen EAF und EKD dann für die nächsten 30-40 Jahre deutlich verschiedene und durchaus spannungsvolle Positionen ein. Im Blick auf die Reform des Unterhaltsrechts allerdings wiesen sie 1971 gemeinsam auf ein Problem hin: Die Benachteiligung der Frauen, die wegen der Versorgung ihrer Kinder nicht durchgängig erwerbstätig sein können. „Es steht zu befürchten, dass das berechtigte Interesse an sozialer Sicherheit immer mehr junge Frauen veranlasst, durchgehend einer Erwerbstätigkeit nachzugehen – die Leidtragenden werden die Kinder sein“, hieß es damals in einem Artikel in den familienpolitischen Informationen. Wer auf die heutigen Debatten um Vereinbarkeit, Infrastruktur und Rente schaut, weiß: die Sorgearbeit ist bis heute nicht ökonomisch gesichert.

 

3. Zwischen Autonomie und Angewiesenheit

Die wirtschaftliche Situation von Bürgerinnen und Bürgern, die für Kinder oder Pflegebedürftige sorgen und denen, die vollerwerbstätig allein oder mit Partner leben, klafft vielmehr immer weiter auseinander. Hinzu kommt: Familienarbeit wird finanziell nur dann honoriert, wenn sie Ehe- oder Lebenspartnerschaft basiert ist; deshalb sind Alleinerziehende besonders von Armut betroffen. Dabei wird ein Drittel aller Kinder inzwischen nichtehelich geboren – doppelt so viele, wie noch vor zwanzig Jahren. Der Zusammenhang von Eheschließung und Geburten – und damit auch der zwischen Ehe und Familie – löst sich also auf. Oder besser: er löst sich wieder auf.

Tatsächlich lebt die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr in Familienhaushalten. Alleinleben scheint der beste Weg, die Werte einer individualistischen Gesellschaft zu leben: Freiheit, Selbstverwirklichung und Selbstkontrolle. Dennoch sind Ehe und Familie nach wie vor zentrale Lebenswerte für die große Mehrheit. 2013 wünschten sich 82 Prozent aller Befragten Kinder und 84 Prozent der Bevölkerung empfanden den Zusammenhalt im engen Familienkreis als stark oder sehr stark. Familie wird offenbar höher geschätzt, als Geburtenraten und Scheidungsstatistik erwarten lassen. Und angesichts der bombastisch gefeierten Hochzeiten ist es durchaus strittig, ob man von einem Bedeutungsverlust der Ehe sprechen kann, oder ob sogar umgekehrt von einer gesteigerten Erwartungshaltung gesprochen werden muss. Und ob sich in der niedrigen Geburtenrate nicht gerade eine sehr bewusste elterliche Verantwortung zeigt.

Dieses Spannungsfeld bringt der Titel der EKD Orientierungshilfe von 2013 auf den Punkt: Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Wer die Denkschriften und Stellungnahmen der EKD zur Familie durchsieht, kann neben der gesellschaftlichen Entwicklung eine theologischen nachvollziehen: Schienen die vielfältigen Familienrealitäten zunächst als Gefährdung des „eigentlichen“ Leitbilds oder als „unvollkommen“, verschob sich in den letzten Jahren der Akzent von der Form zur Funktion der Familie. Ein erster Schritt dazu war „Was Familien brauchen“ von 2002 – ein Text, an dem die EAF unmittelbar beteiligt war – wie übrigens auch an der Orientierungshilfe. Dort heißt es schließlich: „Alle familiären Beziehungen, in denen sich Menschen in Freiheit aneinanderbinden, füreinander Verantwortung übernehmen und eine verlässliche Partnerschaft eingehen, müssen auf die evangelische Kirche bauen können“.

 

4. Irritationen und Herausforderungen: Die „Ehe für alle“

Eigentlich war der Familienbegriff der EKD-Orientierungshilfe 2013 in weiten Teilen der evangelischen Kirche längst selbstverständlich – in der EAF, in den Beratungsstellen, in der Diakonie – aber auch in der Frauen-, Kinder- und Jugendarbeit. Bei allen also, die in den 50er Jahren die Aktionsgemeinschaft Familie gegründet hatten. Die verfasste Kirche allerdings stand und steht für viele – außen wie innen – für den Zusammenhang von Ehe und Familie als Norm. Schließlich klingt doch in jeder Trauagende die „Schöpfungsordnung“ an und auch an das Scheidungsverbot wird erinnert – so jedenfalls werden die biblischen Texte verstanden. Hat sich also die Kirche von ihren biblischen Grundlagen entfernt? „Bei Licht besehen, dreht sich die Sache um“, schreibt der Alttestamentler Jürgen Ebach. „Nicht der weite Familienbegriff der Orientierungshilfe verabschiedet sich von biblisch-theologischen Grundlagen; vielmehr mangelt es dem lange herrschenden kirchlichen Bild von Ehe und Kleinfamilie an biblischer Begründung. Diese Ehe- und Familienform geht nicht auf die Bibel zurück, sondern auf das Bürgertum des späten 18. und 19. Jahrhunderts“.

Ehe und Familie dürfe man nicht als ewige Ordnungen missdeuten, schrieb schon Dietrich Bonhoeffer. Es geht vielmehr um die Relationalität – die Beziehung zwischen den Partnern als fundamentale Entsprechung der Beziehung zwischen Gott und Mensch. Nicht die Geschlechterdifferenz, sondern die Angewiesenheit steht deshalb im Mittelpunkt der Orientierungshilfe. Das Ja zu Ehe für alle, das der Rat in diesem Jahr beschlossen hat, war hier vorbereitet – auch wenn das keinesfalls das Zentrum der Orientierungshilfe war. Wer die derzeitige Debatte um die öffentliche Segnung in Württemberg wahrnimmt, spürt noch einmal den heftigen Gegenwind in der Kirche. Dabei geht es durchaus nicht nur um kirchliche, sondern eben auch um gesellschaftliche Fragen. Denn es waren die Gleichstellungsentscheidungen in Europa und zuletzt der Beschluss des Bundestages zur „Ehe für alle“, die die Gemüter erregten.

Die Fragen zur Familienpolitik, die damit verbunden sind – vor allem im Blick auf das Adoptionsrecht – sind aber auch politisch keinesfalls erledigt. Ganz zu schweigen von denen, die im Kontext von Reproduktionsmedizin, Samenspende und Leihmutterschaft auf dem Weg sind. Kann es rechtlich betrachtet eine Elternschaft zu dritt geben wie in Großbritannien – oder gar zu viert, wenn ein lesbisches und ein schwules Paar gemeinsam Kinder haben? Und wie steht es dabei um die Rechte der Kinder? 50 Jahre nach 68 ist unsere Gesellschaft wieder in schnellem Wandel – und ich bin, wie ich mit Erstaunen feststelle, heute eigentlich ganz froh, dass Gesetzgebungsprozesse ihre Zeit brauchen – Zeit zur Debatte, Zeit, ethische Fragen zu klären.

Dabei geht es auch um die Frage, ob mit Art. 6 GG ein bestimmtes Ehe- und Familienbild verbunden ist. Und welche Funktion dieser Artikel für die Familienpolitik in Deutschland hat. Die Einrichtung eines entsprechenden Ministeriums war ja durchaus strittig. Dabei hatten die Kirchen, vor allem die katholische, einen wesentlichen Anteil am Zustandekommen. Erst in der sozialpolitischen Zusammenarbeit mit anderen Kirchen in Europa ist mir deutlich geworden: vor allem die Länder, die Erfahrungen mit totalitären Regimen hatten, legen Wert auf die Eigenständigkeit und den Eigensinn der Familien. Dass der Staat nicht hineinregiert, dass Vielfalt möglich ist, ist auch für die Bundesrepublik immer wichtig gewesen. Für die Mehrheit der Deutschen bedeutet das heute eben auch: Vielfalt der Lebensformen und „Ehe für alle“.

 

5. Das „weltlich Ding“: Kirche und Familienpolitik

Wie sehr eine kirchliche Schrift zur Familienpolitik heute noch die Gemüter bewegen konnte, fasziniert mich noch immer. Insbesondere ein Luther-Zitat hat dabei eine Rolle gespielt: das „weltlich Ding“. Bei aller Hochschätzung als göttlich Werk und Gebot verstand Luther die Ehe eben nicht mehr als heilsnotwendiges Sakrament. Mit der durchaus umstrittenen Heirat des ehemaligen Mönchs mit einer „entlaufenen“ Nonne beginnt auch die Geschichte der evangelischen Familie. Im Wittenberger Pfarrhaus leben die verschiedenen Generationen, Verwandte wie Gesinde mit Studenten und Gästen unter einem Dach.

Das Reformationsjubiläum hat mich motiviert, noch einmal genauer hinzuschauen. Neu war die nahezu partnerschaftliche Beziehung zwischen den Eheleuten, die innige Liebe zu den Kindern, die Betonung von Bildung, Musik und Sorgearbeit. Die große „Haushaltsfamilie“ Luther – v. Bora aber war nicht neu – sie war typisch für die damalige Oberschicht. Der „Familienvertrag“, der den Hausstand begründete, wurde normalerweise zwischen Brautvater und Bräutigam geschlossen. Die herrschenden Familien machten ihre eigene Familienpolitik. Jenseits aller Romantik ging es um ganz schöne und dabei elementare Themen wie Eigentum, Erbe und Unterhalt. Wir dürfen nicht unterschätzen, wieviel Bindungskraft sie bis heute entfalten – Häuser halten Familien zusammen, Armut kann sie zerstören. Da braucht es manchmal jemand, der von außen Hilfe bietet – wie vor Zeiten Nikolaus. Und auf seine Weise Luther.

Die Kirche war bis ins 13. Jahrhundert erst nachträglich beteiligt – durch den Brautsegen. Dabei gab es eine Fülle kirchlicher Heiratsbeschränkungen wie das Verbot der Verwandten-, der Schwager- und Patenehe. Aber auch aus anderen Gründen stand die Institution gar nicht allen offen: Denen, die nicht über die Meisterwürde verfügten, fehlten schlicht die ökonomischen Grundlagen. Knechte und Mägde bedurften der Zustimmung des Hausvaters. Oft wurden deshalb Familien einfach dadurch begründet, dass Mann und Frau Tisch und Bett öffentlich teilten. Diese Lebensform war jedoch zunehmend prekär geworden. Die alten Landherrschaften, Dorfgemeinschaften und Zünfte verloren ihre Funktionsfähigkeit. Neue Wirtschaftsformen entstanden, zugleich aber wuchs die gesellschaftliche Spaltung und die Wanderungsbewegungen führten zu Mehrfachehen.

Luther baute die Zahl der Ehehindernisse radikal ab; er forderte die öffentliche Eheschließung für jedermann und stärkte die Bedeutung des wechselseitigen Versprechens von Braut und Bräutigam. Es ging ihm tatsächlich um die Welt, um eine neue gesellschaftliche Ordnung, bei der die Beziehungen in Ehe und Familie eine entscheidende Rolle spielen. Dabei wertet er die Rolle der Hausfrau und Mutter auf – er versteht sie als Beruf und Amt. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung begreift er als Gott gegeben – eben mit der Schöpfungsordnung begründet. Die Liebe aber kann auch die Rollenzuweisungen überschreiten: „Wenn ein Mann hinginge und wünsche die Windeln oder tät sonst am Kindere ein verächtliches Werk, und jedermann spottete sein und hielt ihn für einen …Frauenmann, so er’s doch tät in christlichen Glauben…– Gott lacht mit allen Engeln und Kreaturn nicht, dass er die Windel wäscht, sondern dass er’s im Glauben tut.“

„Nirgendwo in Europa ist der Anspruch, wie das Familienleben zu gestalten sei, derart hoch gesteckt wie bei uns“, schreibt Christine Eichel in ihrem Buch „Deutschland Lutherland“. Dass Protestanten bis in die 1970er Jahre weniger Kinder hatten als Katholiken, hängt ihrer Auffassung nach damit zusammen, dass sie besonderen Wert auf Erziehung, Betreuung und Ausbildung ihrer Kinder legten und lieber weniger Kinder zur Welt brachten, wenn die Ressourcen fehlten. Dieser „protestantische Blick auf die Familie“, die verantwortungsbewusste Elternschaft, habe die kollektive deutsche Mentalität geprägt, meint Eichel. In den familienpolitischen Programmen der EAF finden wir jedenfalls ihn wieder. Aber auch die verklärte Rückschau auf Luthers Familie prägte unsere Geschichte lange Zeit. Sie passte zum Zeitgeist von Romantik und Biedermeier, meint Eichel. „zur Kultivierung häuslicher Intimität im Kontrast zur bedrohlichen empfundenen Industrialisierung und zu den Umwälzungen des technischen Fortschritts.“ Familie wurde zur „Wärme – und Werteinsel, die Kontinuität und Solidarität versprach“. Vielleicht ist das ein durchgängiger Strom bis heute.

 

6. Wärmeinsel in den Stürmen

Wir gehen auf Weihnachten zu. Mit der Familie zusammen zu feiern und zu singen, das macht nach einer Chrismon-Umfrage für die allermeisten Menschen Weihnachten aus. Die lutherische Tradition des Heiligen Abends mit „Vom Himmel hoch“, Weihnachtskrippe, Christkind und Bescherung prägt noch immer unsere Kultur. Ein amerikanischer Countrysong erzählt vom Familien-Chor, in dem jeder seine Stimme hat – hier und schließlich auch im Himmel. Mich erinnert das an Weihnachtsliedersingen in meinem Elternhaus – mit Gesangbüchern aus vielen Generationen, die im Regal am Klavier gesammelt waren. Die Tradition begann zu erodieren, als anders geprägte Schwiegersöhne dazu kamen – katholisch der eine, der andere aus der Kirche ausgetreten. Sie ging fast verloren, als die Großelterngeneration starb. Zuvor aber erfuhr sie noch eine Bereicherung durch einen amerikanischen Schwager. Seitdem sangen wir auch „Hark, the Herold Angels sing.“

„Familien sind originäre Orte der Gotteskommunikation, weil sie der Ort erster und eindrücklicher Beziehungen überhaupt sind“, sagt Albert Biesinger. „Gotteskommunikation“ – das ist das gemeinsame Singen genauso wie das Abendgebet am Kinderbett. Gotteskommunikation ist aber auch, „wenn der erwachsene Enkel Silvester mit den gebrechlichen Großeltern feiert, wenn er die Zerstreutheit und die Phantasien der Oma, die früher doch so eine starke Frau war, wahrnimmt“. Oder „,wenn die 18-jährige nicht bereit ist, in die längst gebuchten Ferien abzufliegen, ohne vorher ihre… krebskranke Freundin auf der Intensivstation zu besuchen.“

Die 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD unterscheidet bei der religiösen Kommunikation eine eher informativ-intellektuelle, eine praktisch-handlungsorientierte und eine existenzielle Dimension. Das Gespräch über den Sinn des Lebens findet nicht zuerst in der Kirche statt. Es ist „offenbar ein so persönliches, als intim empfundenes Thema, das in erster Linie mit dem Partner/der Partnerin besprochen wird, dann auch mit Freunden/Freundinnen. An dritter Stelle wird die (erweiterte) Familie genannt“. Der Austausch über religiöse Themen erfolgt also vor allem in den kleinen Netzwerken „von Wahlverwandten und engsten Vertrauten, denen man sich in hohem Maß verbunden fühlt…“ Und die erweiterte Familie ist weit vor der Kirche ein zentraler Ort von Glaubenserfahrung und Glaubenskommunikation. Je jünger allerdings die Befragten sind, umso seltener geben sie an, religiös erzogen worden zu sein. Von den Evangelischen ab 60 Jahren wurden nach eigene Angaben etwa 83 Prozent religiös erzogen, von den Kirchenmitgliedern unter 30 Jahren sagen das nur noch 55 Prozent.

„Die moderne Gesellschaft hat die durch Rituale hergestellten Bindungen geschwächt“, schreibt der Soziologe Richard Sennet. Er stellt dar, wie die Fliehkräfte des Marktes und die ökonomische Funktionalisierung aller Lebensreiche – von Familien bis zu Bildung und Gesundheit, von der Zusammenarbeit im Betrieb über die Gewerkschaften bis zum Verein – Gemeinschaften erodieren lassen. Gemeinschaften brauchen Kontinuität und Vertrauen; umgekehrt entsteht hier aber auch das (Ur)Vertrauen, das Gesellschaften auch in Krisen zusammenhält – ein Mehrwert, der ökonomisch und funktional nicht zu berechnen ist. „Das Zusammenleben in Ehe und Familie bildet ein Gegengewicht zu den Umbrüchen der Erwerbsgesellschaft, die Menschen in erster Linie nach Leistung und Erfolg beurteilt“, heißt es deshalb in der gemeinsamen Erklärung der Evangelischen Landeskirche in Baden und der Erzdiözese Freiburg zur Zukunft der Familie“ vom 16.4.2008. Für viele soll sie Wärmeinsel sein in den Stürmen der Zeit – ein Anspruch, der Familien oft genug überfordert.

Was tun wir als Kirche, um Familien nach außen zu schützen und nach innen zu stärken? Was können wir tun? Zunächst einmal geht es darum, die Ent-Institutionalisierung wahrzunehmen – auch in der Kirche. Eltern unterschiedlicher Konfession und Religion, kirchlich Verbundene wie Suchende müssen darin gestärkt werden, ihre eigenen, durchaus unterschiedlichen Antworten zu finden und Traditionen zu entwickeln. Emanzipation und Mündigkeit sind gefragt – auch in Sachen Religion; auch das ist übrigens lutherisches Erbe. Kirchengemeinden, Tageseinrichtungen und Familienbildungsstätten tun gut daran, mit ihren Bildungsangeboten die je eigene und eigensinnige „Familientheologie“ zu unterstützen, die sich im allmählichen Reflektieren spiritueller Erfahrungen herausbildet – aus Kinderfragen, dem religiösen Wissen der Erwachsener und gemeinsamen Erlebnissen. Und Großeltern brauchen Unterstützung bei der Glaubensvermittlung an ihre Enkel. Angesichts des Zerbrechens von Partnerschaften bilden die Generationenbeziehungen oft die entscheidende und gewissermaßen unkündbare Stabilität. Längst ist die Mehrgenerationenfamilie kirchlich in den Fokus der Familiensoziologie wie auch der kirchlichen Familienarbeit gerückt; das gilt für die Zusammenarbeit mit Mehrgenerationenhäusern genauso wie für die Pflegekampagne der EAF. Familie ist eben nicht nur, wo Kinder sind – Familie ist, wo Generationen Verantwortung füreinander übernehmen. Politisch gibt es da noch viel zu tun – von der Pflegezeit für Töchter und Söhne bis zur Erziehungszeit für Großeltern.

 

7. Übers Meer: Und wieder Politik

„Und nicht jeder teilt mehr das christliche Familienbild“, schrieb der damalige EAF-Vorsitzende Siegfried Keil bereits 2001. „Ist es also noch möglich, ist es richtig, Familienpolitik für die breite Mehrheit zu machen?“ Ja, wenn wir Familie als weltlich Ding verstehen, Öffnung und Vielfalt zulassen, die Sorgearbeit jenseits fester Geschlechterrollen stützen und deutlich machen, was Gemeinschaft stärkt. Da helfen allerdings verklärte Rückblicke nicht weiter – weder, was Luther noch was die 1950er Jahre betrifft. Mit Schrecken habe ich wahrgenommen, dass Theodor Bovets Text von 1962 über das „Amt der Mutter“ sich unmittelbar auf Luther berufen kann. Und dennoch: Vergessen wir nicht, dass Religion den Wind in die Segel, die Energie zur politischen Auseinandersetzung.

Nach einem OECD-Bericht von gestern beträgt die Rentenlücke zwischen Männern und Frauen inzwischen 46 Prozent – Deutschland ist damit Schlusslicht in Europa. Unterbrochene Erwerbsbiographien und prekäre Beschäftigungsverhältnisse werden dabei angeführt, dazu das Lohn-Gap von 27 Prozent angesichts von Teilzeitarbeit und mangelnden Aufstiegschancen von Frauen. Im Hintergrund aber stehen noch immer die Grundpfeiler der westdeutschen Familienpolitik. Vom Kindergarten bis zu den Halbtagsschulen baute das Bildungssystem lange Zeit darauf, dass jedenfalls ein Elternteil allenfalls halbtags arbeitete. Und das Steuersystem unterstützt dieses Modell. Luther lässt grüßen – bis heute. Dabei hat sich das Leitbild der heute 20-40 –jährigen, wie die Untersuchungen von Jutta Allmendinger zeigen, grundlegend verändert: Junge Männer wie Frauen gehen ganz selbstverständlich von der Erwerbstätigkeit beider Partner aus. Kein Wunder, dass die Frustration im Osten Deutschlands besonders groß ist – oder umgekehrt die Attraktivität des westdeutschen Modells dort besonders gering. Schließlich lag bei der Wiedervereinigung die Frauenerwerbsbeteiligung im Osten dank einer breit ausgebauten Infrastruktur bei fast 90 Prozent – im Gegensatz zu 55 Prozent im Westen.

Das deutsch-deutsche Beispiel zeigt, wie notwendig es ist, auch die scheinbar privaten Lebensformen politisch zu verstehen. Sofern nicht eine schulterzuckende Gleichgültigkeit herrscht, werden Familien und Partnerschaften aber eher in moralischen Kategorien diskutiert. Gerade in der Kirche. Aber „Kinder, Küche, Kirche“ waren nie unpolitisch – im Gegenteil: über lange Zeit haben die Kirchen Einfluss genommen auf die Entwicklung des Eherechts, um Elternrechte und Kindererziehung oder eben um die Rolle der Frau als Hausfrau und Mutter. Schon deswegen gilt es, geschichtsbewusst und verantwortungsvoll umzusteuern, wo das heute nötig ist.

 

8. Die Segel richtig setzen

„Wenn die bunten Fahnen wehen, geht die Fahrt wohl übers Meer“. Ich sehe unser Boot auf den Wellen und halte mich an den Mast. An die Pflöcke, die Stabilität geben: die tragenden Werte aus der Reformation, aber auch aus der Aufklärung. Eine offene Familien- und Geschlechterpolitik, die gerade auch die Schwachen schützt, dazu die Wertschätzung von Gemeinschaft und Sorgearbeit. Drei Segel will ich zum Schluss setzen, in die der Wind dann blasen kann:

8.1. Öffentliche Theologie ist gefragt

Die Unterstützung der Schwächeren wie der Sorgearbeit braucht einen politischen Anker – sie braucht Institutionen, an die sich mit Gesetzgebung anknüpfen lässt. Das gilt auch für die Familie – im Blick auf das Steuer- und Sozialsystem oder auch auf Kinderrechte. Deshalb müssen wir weiter nachdenken über das Verhältnis von Recht, Freiheit und Liebe, die manchmal geradezu unvereinbar erscheinen. Angesichts der aktuellen ethischen Herausforderungen brauchen Kirche und Gesellschaft brauchen eine gut wahrnehmbare öffentliche Theologie.

8.2. Die EAF braucht breite Bündnisse

Die Entgrenzung der Arbeitswelt, die wachsende Mobilität und die Anforderungen an Vereinbarkeit zählen zu den brennenden Herausforderungen für Gesellschaft und Kirchen. Wirtschaftliche Entwicklung, Pluralisierung und Entinstitutionalisierung der Lebensformen auf der einen Seite und die familienpolitischen Rahmenbedingungen auf der anderen passen nicht mehr zusammen. Mütter wie Väter wünschen sich eine neue Kombination aus kurzer Vollzeitarbeit und Familienzeit. Familienpolitik ist Querschnittspolitik: sie betrifft nicht nur das Familienministerium, sondern das Steuer- wie das Sozialsystem, das Gesundheits- wie das Bildungssystem und auch die Tarifpartner. Die jüngste Beschäftigtenumfrage der IG Metall und der anstehende Kampf in der Metallindustrie machen das deutlich. Wie am Anfang braucht die EAF deshalb breite Bündnisse – nicht zuletzt um der wieder wachsenden Kinderarmut zu begegnen.

8.3. Die Gemeinden sind dran

Wenn die Reibung zwischen verfasster Kirche, Diakonie und Verbänden in den Hintergrund rückt, werden die Themen der EAF wieder ganz praktisch. Seit der Arbeit an der EKD-Orientierungshilfe beobachte ich einen Aufbruch in vielen Kirchenkreisen und Dekanaten – von Hamburg bis nach Erlangen. Familienbildungsstätten, Mehrgenerationenhäuser, Familienzentren, diakonische Projekte, Quartiersarbeit sind beteiligt an neuen Projekten, lenken den Blick auf die Vielfalt der Familien in Gemeinden und Quartieren und vernetzen sich miteinander. Die Gemeinden sind dran – im doppelten Sinne. Ich sehe darin eine große Chance!

Also spannt die Segel auf, die uns in Fahrt bringen – Herausforderungen gibt es wahrhaft genug!

Ich wünsche der EAF für die nächsten 60 Jahre Mut und Weitblick und allzeit eine Handbreit Wasser unterm Kiel. Und vor allem Gottes Segen.

 

Cornelia Coenen-Marx, 6.12.17, Nürnberg