Kraftorte: Interview mit Pfarrerin Friederike Weltzien

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DIAKONISCHE PILGERREISEN: DER BLOG

Wir entdecken Diakonische Pilgerorte – 
diesmal auf der Spur von: Pfarrerin Friederike Weltzien

Ein spiritueller Ort entstehe nach ihrer Erfahrung immer als Zwischenraum zwischen Menschen, sagt Pfafferin Weltzien. Auch ein Gemeinderaum wie dieser in Stuttgart-Obertürkheim kann so ein Ort sein, wenn Menschen zusammenfinden, um gemeinsam zu essen und zu sprechen, über kulturelle und religiöse Unterschiede hinweg.

Friederike Weltzien, verheiratet und Mutter von vier Kindern, ist Pfarrerin in Stuttgart. Sie arbeitet zusätzlich als Tanztherapeutin und gibt regelmäßig Fortbildungen im Libanon und in Deutschland zum Umgang mit traumatisierten Menschen. Innerhalb ihrer dreiviertel Pfarrstelle im Stuttgarter Stadtteil Obertürkheim ist sie intensiv in die Flüchtlingsarbeit eingebunden.

 

Sie beschäftigen sich beruflich und/oder ehrenamtlich mit Diakonie. Was liegt Ihnen dabei besonders am Herzen?
Seitdem syrische Flüchtlinge in Deutschland angekommen sind, haben sie den Weg zu mir und ich zu ihnen gefunden. Da ich Arabisch spreche und die meisten Orte kenne, aus denen sie kommen, stellt sich schnell eine Vertrautheit ein. In unserer Gemeinde ist so ein lebhafter Austausch entstanden. Geflüchtete bringen sich ins Gemeindeleben ein, die Kulturen beginnen sich immer häufiger zu begegnen und zu verweben. Immer wieder sprechen Flüchtlinge auch in den Gottesdiensten zu der Gemeinde. Beispielsweise hielt ein geflüchteter moslemischer Rechtsanwalt aus Aleppo zu Ostern eine Rede, in der er der Gemeinde erzählte, wie er in Aleppo mit seinen christlichen Freunden zusammen die Osternacht verbracht hatte. Er fühle sich jetzt in Deutschland angekommen in einem neuen Leben, wie neugeboren. Das war seine Deutung von Auferstehung. Im Anschluss wurde die ganze Gemeinde zu syrischem Gebäck eingeladen, das eine Gruppe am Samstag vorher in der Gemeindeküche gebacken hatte.

Gibt es eine persönliche Erfahrung, die Ihnen den Kern diakonischer Arbeit existenziell vor Augen geführt hat?
Ich bin in Beirut im Libanon aufgewachsen, wo mein Vater Dozent an der Amerikanischen Universität gewesen ist. Als Kind und Jugendliche fand ich das große Gefälle zwischen unserem gesicherten und wohlhabenden Leben und der zum Teil extremen Armut und der Not in meiner direkten Umgebung sehr belastend. Ich erlebte die deutschsprachige Evangelische Gemeinde in Beirut als einen Ort, von dem aus wir als Jugendliche aktiv werden konnten und in die libanesische Gesellschaft hinein wirksame Projekte starteten. Von hier aus ließen sich Netzwerke von deutschen Kontakten bis zu verschiedenen libanesischen Einrichtungen und Institutionen spannen. Diese Erfahrung hat mich sehr beeinflusst.

An welchem Ort (in welcher Einrichtung, in welchem Haus oder Raum) ist Diakonie für Sie in besonderer Weise sichtbar und erfahrbar geworden und was hat Sie dort fasziniert?
Es ist vielleicht die Gemeindeküche. Ein heikler Ort in einer alteingesessenen schwäbischen Kirchengemeinde. Aber im Herbst 2015 wurde in unserem Ort die Turnhalle mit hundert Flüchtlingen belegt. Da öffneten wir die Türen unserer Räume und es stellte sich heraus, dass das größte Bedürfnis der Menschen war, selber Essen zu kochen, etwas, was sie kennen und was ihnen schmeckt. Also wurde jeden Dienstag für achtzig bis neunzig Leute gekocht. Die Hilfsbereitschaft war groß, Gelder mussten gesammelt werden, die Lebensmittel eingekauft und die Tische gedeckt und dann auch wieder alles abgeräumt, gespült und gesäubert werden. In der Küche trafen die Kulturen aufeinander. Dinge veränderten sich, zunächst gab es viel Aufregung in der Gemeinde und auch Sorgen und Ängste. Aber gerade da entwickelten sich die intensivsten Kontakte auch ohne Sprachkenntnisse. Inzwischen ist es selbstverständlich geworden. Es wird immer noch regelmäßig syrisch gekocht, besonders jetzt in der Zeit des Ramadan werden gemeinsame Essen zum Fastenbrechen gefeiert. Es freute mich, wie unsere Mitglieder des Freundeskreises festlich gekleidet zum ersten Fastenbrechen dazukamen und welch fröhliche Stimmung entstand. Auf einmal werden religiöse Themen ganz zwanglos miteinander diskutiert und besprochen und erlebt.

Was macht Ihrer Meinung nach einen – oder diesen – „diakonischen Ort“ zum spirituellen Kraftort (Geschichte, Gestaltung, Personen …)?
Ein spiritueller Ort entsteht in meiner Erfahrung immer als Zwischenraum, ein Zwischenraum zwischen Menschen. Dort, wo sich so etwas wie ein seelisches Angesprochensein ereignet in einem Kirchenraum, in einer Moschee oder einer Synagoge oder auch zum Beispiel an einem Baum oder vor einem Kunstwerk. All das kann für mich zum spirituellen Raum werden. Für uns hier ist es der Raum, in dem Menschen sich entfalten, ihre Religion leben, in aller Verschiedenheit. Ein Raum, in dem Gottesbeziehung möglich wird, über Andacht und Stille, über Gebet und Gesang, über Tanz und Texte. Ich bin dankbar für den Kirchenraum, der in seiner Atmosphäre Distanz zum Alltagsleben schafft und anregt zum Gebet, zum Gespräch mit alten Texten und aktuellen Themen. Aber ich finde auch in der Natur solche Orte, an denen ich nach Kraft suche und auch erlebe, dass ich sie empfange.

Was würden Sie in Ihrem Arbeitsumfeld räumlich ändern, wenn Sie die Freiheit und Mittel dazu hätten, damit die Arbeit, die Ihnen am Herzen liegt, noch besser gelingt?
Was ich mir wünschen würde, wäre ein richtiges Zentrum für die kirchliche Arbeit mit Flüchtlingen. Einen Lebensort, an dem Menschen zusammenkommen können, sich selbständig organisieren können, sich gegenseitig beraten und unterstützen, aber auch unterstützt werden von professioneller Seite. Ein Ort, an dem Tanz und Gesang stattfinden kann, aber auch kleine Werkstätten eingerichtet werden können, so dass Geflüchtete sich gegenseitig in ihren Berufen unterstützen können (Nähwerkstatt und Friseurladen, Computerworkshops und Sprachunterricht, Schulunterricht für Kinder in ihren Heimatsprachen usw.). Einen Raum der Stille, der offen ist für alle, an dem interreligiöse Gebete stattfinden, zum Beispiel für die in der Heimat verbliebenen Familien, Abschieds- und Trauerrituale und Dankes- und Freudenfeiern … Ich ganz persönlich bräuchte einfach mehr Zeit und Unterstützung, um meine Arbeit sinnvoll weiterzuführen.

Und sonst? Haben Sie weitere Gedanken, Anmerkungen, Anregungen zur Bedeutung – und vielleicht auch zur Relativierung – diakonischer Orte?
Ich beobachte, dass wir unsere kirchlichen Räume öffnen müssen, um wirksam zu werden als diakonische Orte in unserer Gesellschaft. Unser Gemeindezentrum wird in ein Stadtteilzentrum umgewandelt werden, damit die Räume für alle Bevölkerungsschichten zugänglich werden. Es besteht eine hohe Kinderarmut in unserem Stadtteil, ein Viertel der Kinder unter sechs Jahren leben unter der Armutsgrenze und es gibt verschiedene Bevölkerungsgruppen, die kaum in Kontakt zueinanderkommen (Leute aus der türkischen Kultur, der italienischen, spanischen, griechischen, der deutschen natürlich und jetzt Flüchtlinge vor allem aus Syrien). Es hat sich ein Lenkungskreis aus allen im Ort vertretenen sozialen Einrichtungen gebildet, um ein Konzept für ein solches Zentrum zu erarbeiten. Die Kirche gibt ihre Räume auf, damit sie nutzbar werden für den eigentlichen Sinn und Zweck kirchlicher Räume, indem sie sich der gesellschaftlichen Not stellt.

Vielen Dank!

Link zu den Webseiten: www.obertuerkheim-evangelisch.de und https://freundeskreise-stgt-WHO.de

Hier klicken um die Angebote: Pilgerreisen 2017 zu sehen. Viel Spaß beim Lesen.

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