Empathie und Solidarität – Christsein und Kirche in der Zivilgesellschaft

Vortrag bei der Eröffnung der Ehrenamtsakademie in Frankfurt am 26.4. 16

1. Empathisch, effizient und leise – Kirche im Spiegel

Empathisch, effizient und leise – so organisierten die Kirchen ihre Hilfe für Flüchtlinge bis in einzelne Gemeinden hinein, schrieb der „Freitag“ in seiner Osterausgabe in einem Dossier über soziales Engagement. Die deutsche Gesellschaft teile sich derzeit in zwei laute Gruppen und eine stille, schreibt Christian Füller. Es gebe die Hetzer von Pegida und Menschenfeinde, die selbst Frauen und Kinder angreifen. Es gebe die Helfer, die das Asyl-Chaos in Berlin und anderswo lindern helfen – auch sie seien oft laut, mitunter selbstgerecht und hysterisch. Und dann gebe es die stillen Helden in den Kirchen. Der Artikel erzählt von der Bedeutung der Berliner Caritas, die ein halbes Dutzend Leute der Basis-Initiative „Moabit hilft“ eingestellt hat und damit der Arbeit, die tief im Quartier verwurzelt ist, Struktur und Stabilität zur Verfügung stellt. Die Kirche und ihre Mitglieder, so Füller, wirkten als Organisatoren alltäglicher Barmherzigkeit tief in die Gesellschaft hinein und der Staat greife wie selbstverständlich auf sie zurück. So hat der Staat die Caritas gebeten, die Organisation vor Ort am Lageso zu übernehmen – und die Öffentlichkeit akzeptiert das. Das Erzbistum hat einen Fonds aufgelegt, bietet Supervision für die Freiwilligen an, aber auch Deutschkurse, Patenschaften, Treffpunkte bis in die einzelnen Pfarreien. Füller erzählt dann weiter von der Gemeinde Potsdam, die ebenfalls eine breite Palette vom Patenschaftsprogramm, einem Café und einen Kennenlern-Treff Christen und Muslime bis zum Mutter-Kind-Projekt anbietet und inzwischen an einem offenen Gemeindekonzept einer offenen Gemeinde arbeitet. Und natürlich könnte man hier hinzufügen, wie viele Millionen die Evangelischen Landeskirchen inzwischen in Fonds für diese Arbeit eingestellt haben.

„Tue Gutes und schweige darüber“ ist der Artikel überschrieben – das erinnert ein wenig an das stille Ehrenamt, das in den Umbrüchen des 19. Jahrhunderts propagiert wurde. Auf diesem Hintergrund galten die Kirchen lange Zeit als verstaubte Institutionen mit einem „alten“ Ehrenamtsbegriff – die Engagementszene setzte stattdessen auf neue Initiativen und attraktive Projekte. Dabei gehören die Kirchen nach dem Sport gleichauf mit der Bildung noch immer zu den drei größten Engagementträgern in unserem Land – der jüngste Freiwilligensurvey zeigt, dass die Zahl der ehrenamtlich Engagierten zwischen 1999 und 2014 sogar noch gestiegen ist, obwohl wenn die Mitgliederzahlen insgesamt zurückgehen. Und wir dürfen diese Tatsache als Beleg lesen, dass die Kirche nach wie vor als vertrauenswürdige Institution gilt sowie als kompetenter Träger für zahlreiche soziale und kulturellen Felder in unserer Gesellschaft. Und natürlich ist diese Beobachtung zugleich eine Aufforderung, mit diesem enormen Potenzial bewusster und wertschätzend umzugehen. Das beginnt bei der Wahrnehmung: Die Bezeichnung Ehrenamt klingt in manchen Ohren noch immer so, als sei das freiwillige Engagement eher ein Mittun als ein Gestalten und Entscheiden – gut gemeint und mit Herz, aber eben nicht professionell. Doch das wird den Realitäten nicht gerecht. Gleich ob im sozialen Bereich, in Leitungsaufgaben oder kulturellen Initiativen: Ehrenamtlich Engagierte bringen durchaus hohe, zum Teil professionelle – aus ihrer Berufstätigkeit oder Lebenserfahrung und sozialer Praxis gewonnene – Kompetenzen ein. Schließlich gibt es einiges, was Ehrenamtliche gerade deshalb tun können, weil sie nicht die offiziellen Vertreterinnen und Vertreter kirchlicher oder staatlichen Instanzen sind.

Es war keinesfalls selbstverständlich, dass die Kirchen aktuell wieder ihre Bedeutung als gesellschaftlicher Akteur unter Beweis gestellt haben. Offenbar ist Kirche gerade dann stark und attraktiv, wenn staatliche Strukturen noch fehlen, um mit neuen Herausforderungen umzugehen, wenn Problemlagen zunächst diffus erscheinen und alles darauf ankommt, flexibel neue Konzepte zu entwickeln – ausgehend von der unmittelbaren Wahrnehmung, Begegnung und Aktion und nicht von festgelegten Strategien und definierten Modulen. Dieser Weg der flexiblen Konzeptentwicklung braucht Strukturen, die Spielräume ermöglichen. Dazu eine grundlegende Verlässlichkeit – offene Räume und Anlaufpunkte, ein Mindestmaß an hauptamtlich Mitarbeitenden und eine finanzielle Grundausstattung, vor allem aber Vertrauen und Erfahrung. Das alles bringt die Kirche mit – und es wurde lange so selbstverständlich genommen, dass es nicht in den Fokus trat. Im letzten Jahr aber wurde klar: die Kirchen konnten auch deswegen in der so genannten Flüchtlingskrise so effizient helfen, weil sie Anlaufstellen an jedem Ort haben – und darüber hinaus eine breite Erfahrung mit Quartierscafés, Mittagstischen und Kleiderkammern, Hausaufgabenhilfen und Arbeitsloseninitiativen, Kirchenasyl, Eine-Welt-Arbeit und Patenschaften. Jetzt war und ist nicht mehr nötig, als diese Arbeit neu zu fokussieren und konzeptionell aufeinander zu beziehen – nicht zuletzt Missio und die Kindernothilfe sind wichtige Partner, wenn es um Deutschkurse und Integration geht.

 

2. Initiatoren oder Ausputzer? Ehrenamtliche in der Bürgergesellschaft

Es sind aber vor allem freiwillig Engagierte, die die Geflohenen willkommen heißen, ihnen Unterkunft und Kleidung, Sprachkurse und Begleitung im Alltag anbieten und dafür auf Strukturen und Räume der Kirche zurückgreifen. Diese Bewegung erinnert an die Anfänge der Diakonie im neunzehnten Jahrhundert. Sie gingen aus ganz ähnlichen Initiativen hervor, in denen engagierte Bürgerinnen und Bürger sich im Namen christlicher Nächstenliebe um diejenigen kümmerten, die bei der Industrialisierung auf der Strecke blieben – um Migranten genauso wie um unversorgte Kranke und Sterbende, überforderte Familien oder arbeitslose Jugendliche. Ob es um Hilfen für Flüchtlinge, die Tafelarbeit oder die Inklusion von Menschen mit einer Behinderung oder Demenzerkrankung geht- gesellschaftlicher Zusammenhalt und soziale Innovation leben vom ehrenamtlichen Engagement. Von Amalie Sieveking im Hamburg und Theodor und Friederike Fliedner in Kaiserswerth bis zu Brigitte Schröder, der Gründerin der grünen Damen, oder Cecily Saunders, der Initiatorin der Hospizarbeit, haben gesellschaftliche Veränderungen immer mit Frauen und Männern begonnen, die die Initiative ergriffen. So wurden im 19. Jahrhundert Vereine, Verbände und Genossenschaften in Diakonie, Frauen- und Jugendarbeit gegründet, in denen bald auch neue soziale und pädagogische Berufe entstanden. Durch den Auf- und Ausbau des Sozialstaats, in dessen Rahmen Diakonie und Caritas heute neben vielen anderen als Träger der sozialen Dienste auftreten, haben die Wohlfahrtsverbände in den Augen vieler einen eher „staatsanalogen“ oder inzwischen auch marktförmigen Charakter bekommen – nicht mehr überall ist die Unmittelbarkeit des Engagements spürbar. In jüngster Zeit haben wir aber erlebt, wie wichtig ehrenamtliches Engagement ist, um Impulse zur Erneuerung und Veränderung geben. Das hat positive, teilweise aber auch problematische Dimensionen:

Angesichts der leerer werdenden öffentlichen Kassen ist der Einsatz von Ehrenamtlichen etwa in der Tafel-, Hospiz- und Flüchtlingsarbeit gesellschaftlich hoch willkommen. Diese Entwicklung kam man als Ergebnis eines Rückzugs des Sozialstaats verstehen – gerade in der so genannten Flüchtlingskrise ist ja deutlich geworden, wie problematisch die Ausdünnung von Sozialverwaltungen und Polizeidienststellen oder auch die Privatisierung des ehemals öffentlichen Wohnraums tatsächlich sind. Ehrenamtlich Engagierte, die auf 450-Euro-Basis die Koordination von Flüchtlingsunterkünften übernehmen, weil die Stadtverwaltungen überfordert sind, haben sich dazu auch sehr klar geäußert. Manche haben in diesem Zusammenhang schon von den Freiwilligen als Ausputzern und billigem Jakob des Sozialstaats gesprochen. Zugleich aber sehen wir ein gewachsenes Selbstbewusstsein der Zivilgesellschaft. Die beiden letzten Freiwilligensurveys der Bundesregierung einen neuen Ausgleich von Ich- und Wir-Orientierung, weg von der Ausrichtung auf Geselligkeit hin zu Engagement für das Gemeinwohl: Bürgerinnen und Bürger nehmen gesellschaftliche Anliegen selbst in die Hand und gestalten sie auf eigene Weise. „Diese Bereitschaft zu helfen, miteinander zu sprechen, sich zu informieren oder Initiativen ins Leben zu rufen, ist großartig. Dieses Engagement hält unsere Gesellschaft zusammen und ist ein zentraler Pfeiler unserer Demokratie. Es ist auch ein Zeichen für Integration in und Teilhabe an unserer Gesellschaft“, sagte Ralf Kleindieck, Staatssekretär im Bundesfamilienministerium, kürzlich bei der Vorstellung des 4. Freiwilligensurveys.[1] Klar ist: die kulturpessimistische These, das „alte Ehrenamt“ mit seiner altruistischen Motivation sei durch das zeitlich begrenzte „neue Ehrenamt“ mit starkem Selbstverwirklichungsinteresse abgelöst worden, trifft nicht zu. Vielmehr haben wir es mit einem Motivmix zu tun: Freiwillig Engagierte verbinden selbstbezogene und altruistische Motive.[2] Die Norm der Wohltätigkeit verliert ihre Monopolstellung – ihr zur Seite tritt die Norm der Reziprozität, das Gleichgewicht von Geben und Nehmen.[3]Wer sich engagiert, gewinnt neue Beziehungen, Lebensvertiefung und Lebenssinn, aber auch Kompetenzen und Qualifikation. Mit ihrer aktiven Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen gestalten Ehrenamtliche die Bürgergesellschaft und knüpfen soziale Netze, von denen viele andere profitieren.

 

3. Selbstwirksamkeit und Solidarität – das Recht auf Ehrenamt

Es griffe also zu kurz, bürgerschaftliches Engagement vor allem nach seinem gesellschaftlichen und sozialen Nutzen zu beurteilen. Für die Ehrenamtlichen selbst bedeutet ihr Engagement zumeist eine große Bereicherung. So hat die sozialwissenschaftliche Forschung gezeigt:[4] Menschen, die sich in Gruppen engagieren, entwickeln ein überdurchschnittlich hohes Vertrauen, eine positive Grundeinstellung in der Begegnung mit anderen. Und das gilt nicht nur für die anderen in der eigenen Gruppe, sondern auch gegenüber Fremden und Andersartigen. Das Gefühl, gebraucht zu werden, lässt uns stark werden. Selbstwirksamkeitserfahrungen sind die wesentliche Triebfeder des Engagements. Ehrenamtliches Engagement bedeutet gesellschaftliche Teilhabe, von der niemand ausgeschlossen sein sollte – auch Menschen mit Behinderung, Hartz-4-Empfänger oder Migranten nicht. Hier und da können Menschen, die sich sonst selbst als Hilfeempfänger erleben, solche Erfahrungen machen. Ich denke an „Kunden“ oder Gäste der Tafel, die zum Teil des Teams werden oder ein Team von Menschen mit Behinderung, das in Essen zu Museumsführern ausgebildet wurde. Selbstverständlich ist das noch lange nicht – leider auch in der Kirche – auch dort stehen sich oft noch Hilfebedürftige und Hilfeempfänger gegenüber. Studien, die in den Blick nehmen, aus welchen Schichten und Milieus die Engagierten kommen, zeigen deutlich: Sie sind gut ausgebildet, mit gut situierter Familie und Freundeskreis, oft an vielen Stellen zugleich engagiert. Es gilt das Matthäusprinzip: Wer hat, kann weitergeben. Wer aber wenig an Ressourcen mitbekommen hat, wer wenig zu bieten hat, der findet oft auch den Einstieg ins Ehrenamt nicht. Und von den prestigeträchtigen und in sozialer und beruflicher Hinsicht durchaus nutzbringenden Ehrenämtern in Leitungsgremien bleibt in der Regel ausgeschlossen, wer es sich nicht leisten kann, nur für die Ehre zu arbeiten.

Nicht zuletzt durch engagementpolitische Initiativen und durch staatliche Gesetzgebung hat sich in den letzten Jahren eine Grauzone entwickelt zwischen dem klassischen Ehrenamt und prekären Beschäftigungsverhältnissen. Langzeitarbeitslose oder Rentnerinnen mit kleinen Renten bekommen immer häufiger eine Übungsleiterpauschale oder das Minijobsalär für ihren ehrenamtlichen Einsatz, den sie selbst mit so viel Ernsthaftigkeit ausüben wie andere ihren Beruf. Und in strukturschwachen Bundesländern wird der Bundesfreiwilligendienst für manche zum Berufsersatz. Die zunehmende „Monetarisierung“ des Ehrenamts gehört auch für die Kirche zu den Herausforderungen der Zukunft. Klar ist, dass eine Ehrenamtskirche auch ihre Budgets von Personalentwicklung und Versicherungsleistung über Bildung, Fortbildung und Supervision auf Ehrenamtstauglichkeit überprüfen muss – und dass dabei auch die im Blick bleiben müssen, die nicht zu den gut Situierten gehören. Solidarität ist nicht nur denen gegenüber gefragt, die aktuell Hilfe benötigen – sondern auch denen gegenüber, die Kirche mit ihrer Empathie und ihrem Engagement mit tragen wollen, denen aber das notwenige Kapital fehlt – finanziell, aber auch sozial.

 

4. Engagement und Vereinbarkeit – gesellschaftliche Rahmenbedingungen

Nicht nur, was die gesellschaftliche Spaltung angeht, ist die Zukunft des Ehrenamts eng mit den Herausforderungen und Veränderungsprozessen einer modernen Gesellschaft verbunden. Das gilt auch im Blick auf die Situation von Frauen, Jugendlichen und älteren Menschen – alle besonders engagiert im Ehrenamt. Noch immer sind etwa 70 Prozent der Ehrenamtlichen in Kirche und Diakonie Frauen. Nach wie vor setzt die Gesellschaft auf ihr unentgeltliches ehrenamtliches Engagement, während doch zugleich angesichts des Fachkräftemangels in der Wirtschaft oder auch auf dem Hintergrund der Altersversorgung ein berufliches Einkommen für Männer wie Frauen normal und auch notwendig geworden ist. Noch stützen Ehegattensplitting und Mitversicherung von Familienangehörigen auch das Ehrenamt – zugleich aber klagen immer mehr Frauen über eine ungerechte Versorgung und die Missachtung der Care-Arbeit. Keine Frage: zukünftig braucht die Gesellschaft auch neue Rahmenbedingungen für das Engagement. Die „Ökonomie der Aufmerksamkeit“, die wertvollste Ressource für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, braucht eine grundlegende ökonomische Absicherung – über die bisherigen Modelle hinaus – zum Beispiel bei der Berücksichtigung von Versicherungszeiten oder in der Anerkennung von Engagementzeiten im Studium und Beruf. Frauenverbände haben dazu in den letzten zwei Jahrzehnten Kompetenznachweise entwickelt. Die so genannte Feminisierung der Arbeitswelt verändert aber auch die Wirtschaft – nicht nur mit neuen Modellen zur Vereinbarkeit, sondern auch mit einem neuen Interesse an sozialer Gestaltung, an Bildung und freiwilligen Einsätzen. Auch „Seitenwechsel“ zwischen beruflicher und ehrenamtlicher Tätigkeiten werden normaler.

Zwar ist das Geschlechterverhältnis in der Kirche bei Aufgaben wie Gemeindeleitung, Ausschusstätigkeit, Verwaltung oder Lektorendiensten inzwischen ausgewogen – aber in jüngster Zeit nehmen auch Kirchenleitungen wahr, dass es – trotz aller Quotenregelung – nicht gelingt, hinreichend Frauen für leitende Ämter zu finden, weil die Mehrfachbelastung in Familie, Beruf und Ehrenamt zu groß geworden ist. Es wird Zeit, über neue Zugänge zum Ehrenamt für Frauen und Männer auch in der Berufstätigkeit nachzudenken – und auch über eine andere Verankerung des Ehrenamts in den Umbrüchen des Lebens. Ehrenamtliches Engagement bietet die Chance, Übergänge zwischen Schule und Beruf, beim Wiedereinstieg nach der Elternzeit, nach einem Umzug oder am Ende der Erwerbstätigkeit erfolgreich zu gestalten. Die entsprechenden Angebote müssen deshalb biographisch passend und damit vielfältig gestaltet sein. Dabei geht es um ein sinnvolles, wie selbstbewusstes Tun, das in der Erwerbsarbeit oft vermisst wird. Das Ehrenamt soll sich also von der Fremdbestimmung und vom Konkurrenzverhalten der Arbeitswelt abheben. Übrigens zeigt der jüngste Freiwilligensurvey, dass berufliche Überlastung und Mobilität immer häufiger der Grund für die Beendigung des Ehrenamts ist. Dabei ist es aber inzwischen selbstverständlich, dass auch Ehrenamtliche sich professionell und effektiv einbringen wollen, ihre Zeit und ihren Einsatz planen. Dass sie klare Strukturen, Respekt vor ihren Kompetenzen und Entscheidungs- und Mitgestaltungsspielräume bei der Planung von Projekten erwarten. Sie verstehen sich nicht mehr als Helferinnen und Helfer von Wohlfahrtsorganisationen – vielmehr gilt das Umgekehrte, wie wir am Beispiel der Caritas in Berlin gesehen haben. Und das bedeutet, auch die Kirchen müssen sich im Sinne des „Priestertums aller“ wieder neu als Ehrenamtsorganisationen begreifen, in denen Pfarrerinnen, Pfarrer und andere Hauptamtliche die Engagierten unterstützen.

 

5. Sorgende Gemeinschaften – Ehrenamt als Politik

Was wird aber auf Dauer aus der Übernahme ehrenamtlicher Verantwortung in einer immer stärker ökonomisch ausgerichteten Gesellschaft? In vielen neuen Quartiersprojekten, in Familienzentren, Mehrgenerationenhäusern und Stadtteilzentren entwickelt sich zurzeit eine neue Gestalt des Sozialen: Freundschaftliche Netze, Wohngemeinschaften und Wahlfamilien entstehen. Das Private wird geteilt, Erziehung und Pflege, Beratung und Hilfe werden damit öffentlich, ohne sofort professionalisiert zu werden. In den Nachbarschaften und Quartieren nehmen Menschen vielfältigen Unterstützungsleistungen selbst in die Hand und entwickeln daraus soziale und nicht zuletzt politische Initiativen – immer häufiger quer zu konfessionell oder weltanschaulich geprägten Verbandsstrukturen. Die Hospiz- und die Tafelbewegung sind hier die besten Beispiele. Zum Teil von Sponsoren aus der Wirtschaft unterstützt, wie bei der Tafelbewegung, fordern sie Kirche und freie Wohlfahrtspflege heraus und geben neue Anstöße. Denn um sich heute freiwillig zu engagieren, bedarf es nicht mehr der Verbundenheit mit einer Kirche. Die christliche Begründung des Helfens hat ihren Monopolanspruch verloren. Und die Christinnen und Christen, die sich engagieren, sind in der Regel in mehreren Organisationen aktiv: in Schule und Sportverein, in Kirche und Nachbarschaft. Sie „gehören“ keiner Organisation – im Gegenteil: sie sind es, die mit ihren Ideen Bewegungen in Gang setzen und nach unterstützenden Strukturen fragen. Das Beispiel vom Anfang zeigt deutlich, wohin die Reise geht. Mit ihrer Freiheit und ihrer Verwurzelung im Quartier erkennen Ehrenamtliche oft schneller als soziale Profis, wo neue Problemlagen auftauchen, bürokratische Hemmnisse die Hilfe erschweren oder die fortschreitende Ökonomisierung die Schwächsten allein lässt. Anders als Hauptamtliche, Sozialarbeiter oder Pfarrerinnen, zu deren professioneller Haltung auch eine gewisse Distanz und Abgrenzung gehört, bringen sie sich ganzheitlich und empathisch ein.

Aber auch das zeigt das letzte Jahr mit dem Einsatz der vielen Flüchtlingshelfer sehr deutlich: auch ehrenamtlich Engagierte kommen an ihre Grenzen, weil eine berufliche Freistellung nicht über Wochen und Monate möglich ist oder weil die Supervision fehlt. Sie dürfen tatsächlich nicht zum „billigen Jakob“ eines schlank gesparten Staates werden. Was die Integration von Geflüchteten angeht, wird nachjustiert: neue Verteilzentren werden eingerichtet, Wohnbauprogramme aufgelegt. Tatsächlich wird jedoch viel mehr gebraucht: mehr Investitionen in Tageseinrichtungen und Schulen, mehr Traumatherapeuten und Deutschlehrerinnen. Welche Rolle spielen die Engagierten nun bei dieser politischen Debatte? Sie haben die Willkommenskultur geprägt – werden Sie nun auch dazu beitragen, die Sozial- und Gesellschaftspolitik für die Einwanderungsgesellschaft zu gestalten? Und welche Rolle können dabei Mittlerorganisationen wie die Kirchen spielen? Und werden sie auch die Migrantinnen und Migranten im Blick haben, die in diesem Prozess selbst zu Ehrenamtlichen geworden sind? „Es geht um ein neues Verhältnis von Staat und Gesellschaft, das nicht in Kategorien staatlicher Planung und Steuerung von gesellschaftlichen Prozessen definiert wird, sondern im Sinne einer neuen, kooperativen und partnerschaftlichen Verantwortungsteilung“, hat der inzwischen verstorbene Michael Bürsch geschrieben, der von 1999 – 2002 der Enquetekommission des Deutschen Bundestages zur Förderung Bürgerschaftlichen Engagements vorsaß. Ihm ging es um eine bewusste „Engagementpolitik“ in Bund und Ländern, wie in Wirtschaft und sozialen Organisationen – um das Leitbild Bürgergesellschaft.

Dabei geht es auch um die politischen Strukturen, die Formen der Repräsentation und Meinungsbildung. Das neue bürgerschaftliche Engagement ist nicht überall stumm und effizient, es kann eben auch laut und fordernd, wie der Begriff „Wutbürger“ zeigt. Es geht um ein verbreitetes Gefühl, der oder die Einzelne werde von „denen da oben“ nicht mehr wahrgenommen oder gar repräsentiert wird, dass die Strukturen von Politik, öffentlichen Trägern und Medien zu starr sind, um noch auf die tatsächlichen Probleme der Bürgerinnen und Bürger antworten zu können.

Vor ein paar Jahren hat Beatrice von Weizsäcker ein Buch mit dem Titel „Warum ich mich nicht für Politik interessiere“ geschrieben – in dem es zugleich um ihren Weg zum zivilgesellschaftlichen Engagement geht.[5] Es ist ein Buch gegen Bevormundung durch einen politischen Apparat und die so genannte Parteipolitik, für Transparenz und Einmischung, für Mitspracherechte und Mitbestimmung. Es ist fast schon „in“ geworden, sich für andere einzusetzen, schreibt sie. Und unter der Überschrift „Das scheinbar bequeme Ehrenamt“ schreibt sie: Der Staat muss die Zivilgesellschaft nach Kräften unterstützen. Trotzdem achtet er sie zu wenig. Mal vergibt er ein Verdienstkreuz, mal lobt er das Ehrenamt“, doch gleichzeitig beginnt der Staat, sich (darauf) zu verlassen, als seien die „Angelegenheiten“ der Bürger nicht mehr seine… Der Staat weicht zurück, er zieht sich zurück; er verlässt sich auf die soziale Zivilgesellschaft und verlässt zugleich sein ureigenstes Aufgabengebiet“. So also nicht – auch nicht, wenn es um die neuen Sorgenetze geht. Wir brauchen auch weiterhin eine Sorgestruktur. Eben die gute Kombination aus ehrenamtlich Engagierten und der strukturellen Stabilität, die Kirchen, Wohlfahrtsverbände und staatliche Stellen vorhalten. Dafür zahlen wir Steuern – auch in der Kirche.

 

6. Nicht stumm bleiben – auf dem Reformweg

Aber gerade die kirchlichen Aufbrüche, die durch Ehrenamtliche geprägt waren, haben tiefe Spuren hinterlassen im sozialen Engagement wie im geistlichen Leben. Jugendarbeit und Erwachsenenbildung hatten den Anspruch, sich selbstbewusst und mündig in einer komplexen Welt zu orientieren und den eigenen Glauben verantwortlich zu leben. Aber auch in der Friedens- und Ökologiebewegung haben sich Christinnen und Christen mit ihrem Engagement eingebracht und von dort eigene Impulse in die Kirche getragen, beispielsweise in Hinblick auf den Umgang mit Energie und materiellen Ressourcen. Der konziliare Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung hat nicht unwesentlich zu Demokratisierungsprozessen auch in den Kirchen der früheren DDR beigetragen. Es waren und sind die ehrenamtlich Engagierten, es ist die „Kirche als Bewegung“, die der Kirche als Institution mit ihren Ämtern immer neue Impulse gibt, sie in der Zeitgenossenschaft verortet, während die Amtsträgerinnen und Amtsträger für Kontinuität sorgen.

Gerade deshalb ist es wichtig, in der Struktur der Kirche für Augenhöhe dieser beiden Perspektiven zu sorgen. Die sogenannte Amtskirche braucht Menschen, die die Organisation von außen sehen, andere berufliche Erfahrungen und Kompetenzen einbringen und mit ihren Fragen und ihrer Kritik „den Betrieb stören“. Die Kirchentagsbewegung ist geradezu ein Symbol für dieses Bemühen, die Debatten der Zeit aufzunehmen, der Kirche den Spiegel vorzuhalten, innezuhalten und die anstehenden Herausforderungen auch theologisch zu reflektieren. In unserer religions- und weltanschauungspluralen Gesellschaft, sind Ehrenamtliche vielleicht die glaubwürdigsten Vertreterinnen und Vertreter der Kirche. „Kirche gewinnt an Bedeutung, wenn sie Engagierten Raum gibt und ihre Strukturen engagementfreundlich gestaltet“, heißt es auf der Ehrenamtswebsite der EKD, die eine Gruppe von Vertreterinnen und Vertretern aus den Landeskirchen aufgebaut hat.[6] Pfarrer/innen und andere hauptberuflich Tätige, so Eberhard Hauschildt müssen professionelle Distanz wahren. Ehrenamtliche hingegen können sich in viel größerer emotionaler Nähe engagieren und tun dies zugleich ganz privat. Das impliziert freilich auch eigene Schwierigkeiten, Probleme der Überforderung oder des „Verwickeltwerdens“. Deshalb brauchen ehrenamtlich Engagierte nicht nur fachliche Fortbildung und Informationen über Aufbau und Entscheidungswege in der Kirche, sondern auch geistliche Begleitung, Mentoring und Supervision.

Selbstverständlich gehören zu diesem Reformprozess auch Veränderungen im Profil hauptamtlicher Arbeit. Dieser Prozess hat längst begonnen: Hauptamtliche Pfarrerinnen und Pfarrer, Diakone, Gemeindepädagoginnen und Jugendmitarbeiterinnen sehen sich immer mehr in der Rolle der Coaches, verstehen sich als Moderatoren von Veränderungsprozessen; dabei sorgen sie für eine verantwortliche Struktur, für Kontinuität der grundlegenden Aufgaben. Und da die Mehrheit der Ehrenamtlichen direkt in den Kirchengemeinden engagiert ist, brauchen schließlich auch die Gemeinden neue Strategien und Strukturen. Ehrenamtskoordination sollte eine Funktion der Gemeindeleitung werden und eng mit den Aufgaben und Funktionen des Kirchenvorstands verbunden sein. Das kann selbst eine interessante ehrenamtliche Funktion sein – sie sollte aber in jedem Fall professionell angegangen werden; am besten in einem Team von Haupt- und Ehrenamtlichen. Die Eröffnung der Ehrenamtsakademie ist also ein Schritt auf einem systemischen Weg, der alle Seiten betrifft – die Ehrenamtlichen wie die Hauptamtlichen und die Organisationsstruktur.

Dabei soll deutlich werden: Evangelische Kirche ist in ihrem Kern „Ehrenamtskirche“, denn sie ist per se auf die Gestaltung durch alle Christinnen und Christen und auf ihre Verantwortung angewiesen. Das bedeutet aber keineswegs, dass Christsein sich nur im Engagement als glaubwürdig erweist; schließlich betrifft das allgemeine Priestertum das ganze Leben – auch Beruf und Partnerschaft. Und selbstverständlich zeigt sich christliches Engagement eben auch bei der Feuerwehr oder bei einem Trainerjob im Sportverein oder anderswo in den Vereinen und Initiativen der Zivilgesellschaft. Deshalb ist die Zusammenarbeit von Kirche und Diakonie und von beiden mit Freiwilligenagenturen und Bürgerstiftungen so wichtig. Wo erlebbar wird, dass die Kirche offen ist für das Engagement der Vielen in den eigenen Reihen und dass sie das bürgerschaftliche Engagement in der gesamten Gesellschaft stärkt und unterstützt, da gibt es für alle Seiten viel zu gewinnen.

Schließlich sollten wir uns bewusst sein, dass diejenigen, die sich in den verschiedenen Arbeitsfeldern von Kirche und Diakonie engagieren – bei den Tafeln, in Hospizen, in der Gospelbewegung, als Kirchenkuratoren oder eben in der Flüchtlingsarbeit beispielsweise –, keineswegs alle engagierte Kirchenmitglieder sind. Häufig hatten sie sich schon lange der Kirche entfremdet oder waren ohnehin nie Mitglieder. Das Ehrenamt der Zukunft hat auch die Dimension, Engagierten Herberge und Heimat zu geben – und basiert nicht mehr nur darauf, dass Menschen sich aus einem Heimatgefühl und aus Zugehörigkeit engagieren. Hierüber gibt es Debatten – und es muss sie geben, genauso wie in der Politik. Welche Rolle spielen dabei Taufe und Mitgliedschaft? Kann nicht gerade das Engagement in der Gemeinde den Weg zur Taufe ebnen? Wäre – wie in der Schweiz angedacht – eine Kirchenmitgliedschaft auf Probe denkbar? Für die Zukunft der Kirche wird jedenfalls entscheidend sein, wie sie Engagierte und Suchende auf ihrem Weg zum Glauben begleiten kann und welche Rolle dabei nicht nur die funktionale und fachliche, sondern eben auch die religiöse Bildung spielt. Für offene Angebote und viel Vertrauen spricht, dass viele, die über ihre ehrenamtliche Tätigkeit etwa im Bereich der Kinderarbeit oder der Musik die Kirche erst kennenlernen, sich später offen zeigen für religiöse Angebote. Dass das Engagement im kirchlichen Kontext eine Chance bietet, auch über Glaubensfragen ins Gespräch zu kommen, zeigt die jüngste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD.[7] Das ehrenamtliche Engagement bietet die Chance, Gemeinschaft zu erfahren und dabei Glauben ganz neu zu entdecken.

Die heutige Eröffnung der Ehrenamtsakademie ist ein wichtiger, ein öffentlicher Schritt auf einem spannenden Weg. Kirche entdeckt sich neu als ein durchaus gefragter Teil einer engagierten Bürgergesellschaft. Dabei gilt es die vielen ehrenamtlichen Verantwortungs- und Entscheidungsträger und – in Zusammenarbeit mit der Diakonie und den Verbänden auch die sozial Engagierten, die Initiativen und Ideenträger – stark zu machen und fortzubilden, ihre Mitsprache – und Entscheidungsmöglichkeiten zu entwickeln und sie auch geistlich zu begleiten. Das wird nicht nur die Kirche verändern, sondern auch in die Gesellschaft ausstrahlen. Empathisch und effizient wird die Kirche sein, aber auch solidarisch und nicht immer stumm. Heute jedenfalls nicht.

 

[1] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), Freiwilliges Engagement in Deutschland.
[2] Vgl. Paul-Stefan Roß, Demokratie weiter denken. Reflexionen zur Förderung bürgerschaftlichen Engagements in der Bürgerkommune, Baden-Baden 2012, sowie Serge Embacher und Susanne Lang (Hrsg.), Recht auf Engagement. Plädoyers für die Bürgergesellschaft, Bonn 2015.
[3] Peter Schüll, Motive Ehrenamtlicher. Eine soziologische Studie zum freiwilligen Engagement in ausgewählten Ehrenamtsbereichen, Berlin 2004, S. 57
[4] Robert D. Putnam (Hrsg.), Gesellschaft und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh 2001.
[5] Beatrice von Weizsäcker, Warum ich mich nicht engagiere, Bergisch Gladbach 2009
[6] Vgl. www.evangelisch-ehrenamt.de.
[7] Evangelische Kirche in Deutschland, Engagement und Indifferenz Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis
  1. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014.