„Willkommen in der Wirklichkeit!“

Predigt am 17. Januar 2016 in der Barockkirche Osterwald

„Willkommen in der Wirklichkeit“, titelte das „Handelsblatt“ vorgestern. Das Titelbild dazu: Angela Merkel mit einer verwelkten Willkommensrose, die einen großen Teil ihre Blütenblätter verliert. Am Abend zeigte das Politbarometer, wie sich die Stimmung im Land seit der Silvesternacht in Köln gedreht hat. Nach den Blütenträumen des Sommers ist der Winter eingebrochen. Wer das nicht unmittelbar erlebt, der spürt es an der politischen Diskussion: Willkommenskultur war gestern – jetzt ist von einer Verschärfung der Ausweisung und Abschiebepraxis die Rede. Und auch die Schließung der Grenzen steht im Raum.

In diesen Tagen wurde „Gutmensch“ zum Unwort des Jahres gewählt. Die Jury wollte darauf aufmerksam machen, dass wir in einer Zeit leben, in der die freiwillig Engagierten, die sich um Flüchtlinge kümmern, nicht nur bewundert, sondern oft auch verachtet werden. Als naive Träumer, als Idealisten, die vor der Wirklichkeit die Augen verschließen. Die Pastorentochter aus der DDR setze unseren Wohlstand aufs Spiel, schrieb mir neulich jemand in einem kritischen Brief zu einem Vortrag. Die Kirche nimmt die harte Realität nicht ernst, heißt das.

Willkommen also in der Wirklichkeit. Mitten in den harten politischen Auseinandersetzungen, in Gewalterfahrung und Beleidigungen, in Sorgen und Ängsten. Heute geht die Weihnachtszeit endgültig zu Ende. In den Kirchen und Häusern sind Weihnachtsbaum und Krippe weggeräumt – der Alltag hat uns wieder. Und für viele heißt das offenbar: Schluss mit den Träumen von Frieden und Gerechtigkeit, mit der Hoffnung auf eine andere Welt. Schon am zweiten Weihnachtstag konnte man spüren, wie die zurückgehaltenen harten News die Nachrichtenlage wieder bestimmten – und nach Neujahr war es dann endgültig klar, dass die Welt nun mal so ist wie wir sie nicht gern sehen: voller Bosheit und Gewalt.

Wer allerdings meint, das stehe im Gegensatz zum Weihnachtsevangelium, der hat die Bibel nicht richtig gelesen. Von einer Idylle ist da ja keine Rede – ganz im Gegenteil. Im Notquartier am Rand der Stadt kommt ein Kind zur Welt. Seine Eltern sind noch nicht verheiratet, ja, der Vater ist unsicher über die Herkunft des Kindes. Kurz darauf müssen sie fliehen, weil die Soldaten des Herodes alle Neugeborenen umbringen. Mit Recht ist in vielen Predigten darauf aufmerksam gemacht worden, wieviel Parallelen es da gibt zu denen, die heute mit kleinen Kindern auf der Flucht vor Gewaltherrschern fliehen. Nein, die Weihnachtsgeschichte zeigt die ganze Dunkelheit der Welt. Das Licht, das wir feiern, kommt aus einer anderen Wirklichkeit. Der Stern über dem Stall, der Gesang der Engel, das Strahlen des Kindes – alles, wovon die Lieder, Geschichten und Bilder erzählen, ist ein Widerschein der Herrlichkeit Gottes, deren Glanz die Dunkelheit erleuchtet. Einzig das Gold, das die drei Weisen aus dem Morgenland mitbringen, ist eine ganz irdische Gabe. Gold, Weihrauch und Myrrhe, die kostbaren Geschenke, können die Realität verändern. Und es verändert die Welt, dass an dieser Krippe Arme wie Reiche die Wirklichkeit in einem anderen Licht sehen.

Heute, am letzten Sonntag nach Epiphanias, am Übergang zwischen der Weihnachts- und der Passionszeit ist das das Thema: In welchem Licht sehen wir unser Leben? Wie verstehen wir unsere Welt? Was ist Wirklichkeit für uns? Dabei geht es nicht nur darum, ob wir Optimisten oder Pessimisten sind – ob also das Glas halb voll oder halb leer ist. Es geht darum, was überhaupt in dem Glas ist, was unser Leben ausmacht. Es geht um Sinn und Leere, um Glauben und Zweifel.

Als Lesung aus der hebräischen Bibel haben wir vorhin eine Wüstengeschichte gehört. Erzählt wird, wie Mose – übrigens auch ein Flüchtling, ein Aufständischer, der im Kampf gegen die Unterdrückung seines Volkes einen Aufseher erschlagen hatte – erzählt wird, wie er mitten in der Wüste seine Berufung findet. Da ist weit und breit kein Tempel und kein Altar und trotzdem heiliger Boden. Da ist kein Priester und kein Gottesdienst, aber Gottes Stimme mitten im Wüstenalltag. Mose treibt seine Herde durch gefährliches Gelände – ohne Wasser, ohne Futter-, als er einen brennenden Dornbusch sieht. Eigentlich ist das nichts Besonderes – in der Hitze und Trockenheit passiert es immer wieder, dass die wenigen Gehölze sich selbst entzünden. Man muss dem keine Beachtung schenken; aber Mose sieht hin. Und er hat den Eindruck, dass dieser Dornbusch brennt, aber nicht verbrennt. So wie Liebe nicht ausbrennt. So wie Gottes Kraft kein Ende hat. Das zieht ihn an diesen Ort und er spürt: hier musst du stehen bleiben, hier ist heiliger Boden. Mose tut, was man bis heute in Tempeln und Moscheen tut: er zieht die Schuhe aus und stellt sich mitten hinein in die Realität. Ja, was er nun hört, das ist sein Schicksal und seine Auftrag in wenigen Worten: Er, der Heimatlose, soll sein Volk in eine neue Heimat führen! Diese Berufung wird sein Leben bestimmen – was ihn hier, im Licht dieses Dornbuschs angerührt und angesprochen hat, wird ihn leiten, ganz gleich, was passiert.

Und wer die Geschichte des Volkes Israel kennt, der weiß: da wird noch viel passieren. Es wird Durststrecken und Hungerzeiten geben, das Volk wird sich verirren und im Kreis herumgehen und man wird ihm vorwerfen, er hätte seine Leute in die Irre geführt. Angst, Wut und Zweifel werden Raum greifen – willkommen in der Realität. Aber Mose wird nicht vergessen, woher seine Orientierung kommt; er wird immer wieder nach Gottes Weisung fragen.

Der Jesuitenpater Christian Herwartz, der in einer kleinen Kommunität mitten in Berlin-Kreuzberg lebt, bietet dort seit 10 Jahren Straßenexerzitien an. Es geht darum, „mitten in der Stadt hörend zu werden“, steht auf seiner Homepage. Oder auch sehend – denn er möchte dazu anregen, die Realität Gottes mit allen Sinnen wahrzunehmen. Er geht den alten Mauerstreifen entlang, durch die Brachen der Stadt, zeigt die Verwundungen der Kriege, nimmt die Verletzungen von Menschen wahr. Wer durch eine Stadt wie Berlin geht, der kann Glitzer und Glamour neben äußerster Armut sehen, kann wahrnehmen, wie sich in diesen Tagen Flüchtlinge mit Touristen mischen. Herwartz hilft den Teilnehmern der Exerzitien die Sinne zu öffnen – er gibt Impulse, ins Sehen zu kommen. Nach außen, aber auch nach innen. Dabei erzählt er auch die Geschichte von Mose am Dornbusch und er ermutigt, auch in einem übertragenen Sinne die Schuhe auszuziehen, in denen wir jeden Tag gehen. Unsere Vorurteile und Bewertungen, unsere Schutzmechanismen. Und wirklich einmal innezuhalten, damit Gott zu uns sprechen kann. Wenn wir schon meinen, zu wissen, wie die Welt funktioniert, können wir diese Stimme gar nicht wahrnehmen.

Hellhörig werden und hellsichtig, darum geht es auch in dem Evangelium von der Verklärung Jesu, das wir eben gehört haben: für einen Augenblick sehen Petrus, Jakobus und Johannes, wer Jesus wirklich ist. Sie erkennen den Sohn Gottes, der in einer Kette mit Mose und Elia steht und mit ihnen in einem himmlischen Gespräch ist. Ein Augenblick absoluter Klarheit – alles um sie leuchtet .Und ganz ähnlich wie Mose, der wie im Tempel die Schuhe auszieht, werfen sie sich in Gebetshaltung nieder. Augenblicke später ist alles vorüber, so wie nach Weihnachten der Stern nicht mehr über dem Stall steht. Jesus steigt mit seinen Leuten vom Berg hinunter in die Stadt, wo er bald darauf gekreuzigt wird. Und er verbietet seinen Leuten über ihre Erfahrung zu sprechen, weil er schon weiß, dass viele den Kopf schütteln werden über so Kinderglauben.

Was ist Wahrheit und was Traum und Vision? Was hält Stand in der Wirklichkeit von Flucht und Gewalt, von Zweifel und Verfolgung? Mit dieser Frage hat auch der Apostel Paulus gerungen. Ich lese uns den Text, der für heute als Predigttext vorgeschlagen ist:

2. Kor. 4, 6-10: Gott, der sprach, das Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben. Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen.

Auch Paulus spricht dem Licht, das in der Finsternis leuchtet. Mitten in Bedrängnis, Verfolgung, Unterdrückung. Ja, er spricht auch von Folter und Tod Jesu. Es ist, als ob uns diese kleine Textpassage noch einmal an Weihnachten erinnert, zugleich aber die Passionszeit schon im Blick hat. Was ihn durchhalten lässt, ist die Erfahrung von Licht und Klarheit, die er ganz persönlich gemacht hat. Ganz ähnlich wie Mose, Petrus, Johannes und Jakobus hat auch er einen Augenblick der Erleuchtung erlebt, der sein ganzes Leben umgekrempelt hat. Damals, als er auf dem Weg nach Damaskus eine Stimme hörte, als er geblendet vom Pferd fiel. Er musste nicht nur die Schuhe ausziehen und vom Pferde absteigen, er musste alle Vorurteile, allen Hass ablegen und wurde vom Christenverfolger zum Nachfolger Jesu. Tagelang lag er in der Dunkelheit, um zu begreifen, was geschehen war – eine Kehrtwende um 180 Grad. Als er wieder sehen konnte, sah er die Wirklichkeit mit anderen Augen. Er hat in der Begegnung mit Jesus das Licht erkannt, das in die Welt gekommen ist. Diesem Licht will er folgen, dieses Licht will er weitergeben. Damit will er andere anstecken. Dafür riskiert er sein Leben.

Ein Gutmensch? Ja, man müsste ihn wohl so nennen. Naiv ist er nicht; er weiß, was ihn erwartet, er weiß, wie seine Umwelt tickt – er funktionierte ja früher genauso. Genauso blind für Gottes Wahrheit, für den Glanz, der über den Dingen liegt. Wir Menschen sind so: aus Erde gemacht, voller Angst vor Verlusten und Verletzungen. Aber eben auch: vom Gott geschaffen – mit seinem Licht begabt. Das dürfen wir nicht vergessen, wenn Weihnachten vorbei ist und die Passionszeit naht.

Amen.