Die Seele des Sozialen

Zum zehnjährigen Jubiläum des Pflegezentrums der Diakonie Rotenburg:

Liebe Frau Dangschat, liebe Teammitglieder, meine Damen und Herren,

zunächst ganz herzliche Glückwünsche zum zehnten Geburtstag. Zehn Jahre, das ist das Alter, in dem die Kids die Kinderschuhe ausziehen und von der Grundschule auf die weiterführende Schule wechseln. Wenn es gut geht, noch immer voller Neugier und Begeisterung, mit Lust zum Lernen und Spielen. Zugleich aber schon mit großem Ernst – sie haben ja schon die ersten Zeugnisse und Zensuren bekommen und wissen, dass gute Noten helfen, die nächsten Schritte zu gehen. So ist es bei Ihnen! Wer Ihre Website, es lohnt sich, ansieht, der sieht die tolle Bewertung des MDK, ein glattes „Sehr gut“ in der Bewertung durch die Patientinnen und Patienten prangt da auf der ersten Seite. Meinen Glückwunsch auch dazu – vor allem deshalb, weil uns mit Ihren Teamfotos aus den verschiedenen Zeiten offene Gesichter anstrahlen. Ich habe den Eindruck, jede Menge Energie, Engagement und auch Begeisterung zu spüren. Auf Ihrem Teamfoto von 2005, dem Gründungsjahr Ihrer jetzigen Einrichtung, fällt einem die ältere Schwester auf der rechten Seite ins Auge. Anders als die übrigen Personen auf dem Bild trägt sie die Diakonissentracht. Diese Tracht erzählt etwas von der Geschichte, aus der Ihre Einrichtung sich entwickelt hat. Heute lässt sich das Diakonische auf den Bildern nicht sofort ablesen – auf einem Foto habe ich aber entdeckt, dass der Name der Einrichtung und damit auch das Diakonische auf dem Rücken Ihrer schicken grünen T-Shirts steht. Und es findet sich ja auch in der freundlichen und klaren Formulierung Ihres Leitbildes auf Ihrer Website.

Es hat sich viel verändert, seit Schwester Elfriede aus dem Diakonissenmutterhaus in Kassel ihre Arbeit angetreten hat. Anlässlich Ihres Jubiläums möchte ich diesen Veränderungen ein wenig nachgehen. Über „den Stellenwert einer Diakoniestation in der ambulanten Pflege in unserem Gesundheitssystem“ bat mich Frau Dangschat zu sprechen. Und das tue ich sehr gerne, denn ich habe den Eindruck, dass Sie und Ihre Einrichtung gerade heute eine sehr wichtige Rolle spielen in dieser heutigen Zeit und diesem Gesundheitssystem – dass Ihre Arbeit aber auch mit ziemlichen Herausforderungen verbunden ist, und zwar ganz anderen als denen, die Schwester Elfriede zu Beginn ihrer Tätigkeit kennenlernte (einmal ganz abgesehen davon, dass es damals noch kein Internet gab!). So will ich also im Folgenden über die veränderten Herausforderungen nachdenken und darüber, was Sie und Einrichtungen wie die Ihrige angesichts dieser neuen Situation leisten. Es ist mir aber auch ein Anliegen, über die andere Seite zu sprechen, über Sie selbst und darüber, was die Arbeit, die Sie tun, für Sie bedeuten kann. Ich war lange Jahre als Theologischer Vorstand und Vorsteherin der Schwesternschaft in der Kaiserswerther Diakonie und glaube daher einige der Anliegen zu kennen, die viele Beschäftigte in diesem Bereich umtreiben. – Beschäftigte habe ich gesagt, auch um zunächst einmal genderneutral zu bleiben. Tatsache und ein wichtiger Mosaikstein in dem Gesamtbild, über das ich sprechen möchte, ist aber auch, dass die allermeisten Pflegekräfte Frauen sind, so ja auch die Mitglieder Ihres Teams.

 

Von der Gemeindeschwester zum Versorgungsnetzwerk: Diakonie im Quartier

In meiner Kindheit war die Gemeindeschwester eine ganz selbstverständliche und ganz wichtige Figur, ein zentraler Knotenpunkt im Netzwerk der Ortsgemeinde. Ich stamme aus einer Pfarrersfamilie und die Gemeindeschwester kam oft zu uns zum Frühstück – sie hatte dann ihre erste Schicht schon hinter sich und erzählte von ihren Patientinnen und Patienten. Sie kannte jeden und jede Familie im Viertel und wusste, wo es welche Probleme gab. Und sie hat auf sehr selbstverständliche und direkte Art angepackt und geholfen, wo es notwendig war. Für viele Menschen war sie auch nicht nur wegen ihrer praktischen Unterstützung hilfreich, sondern sie war, was man eine gute Seele nennt: hat den Menschen zugehört, einen netten Schwatz mit ihnen gehabt, ihnen Trost und Mut zugesprochen, wenn es schwer war. Und weil sie immer wusste, was in den einzelnen Häusern los war, wer was brauchte und wer was hatte, konnte sie auch unter den Menschen vermitteln und das Netz weiter knüpfen. Dabei gab es – soweit ich es als Kind wahrgenommen habe – keine klaren Arbeitszeiten und auch keine genauen Bestimmungen darüber, welche Tätigkeiten sie ausüben sollte und welche nicht – und schon gar nicht war vorgeschrieben, wie lange sie etwa fürs Waschen oder Fingernägel schneiden brauchen durfte. Ob allerdings Schwester Helene damals so etwas wie Freizeit und ein Privatleben hatte, daran kann ich mich gar nicht erinnern. Sie war auf eine sehr selbstverständliche Art mit ihrer Aufgabe verbunden. Damit setzte sie eine Tradition fort, die im 19. Jahrhundert als neuzeitliche Diakonie begründet worden war – in der Zeit, als auch das Kaiserswerther Mutterhaus entstand.

Damals, in der Zeit der Industrialisierung, brachen für viele Menschen die sozialen Zusammenhänge, die sie getragen hatten, zusammen. Die Schattenseite der neuen Produktivität, des Anwachsens der Städte und des steigenden Wohlstandes waren Arbeitslosigkeit und Armut, Wohnungsnot und in der Folge oft Probleme mit Alkohol und Kriminalität, Schwangere und Mütter ohne Männer, die sie versorgt hätten. Persönlichkeiten wie Johann Hinrich Wichern oder Theodor Fliedner und seine Ehefrau Friederike und nach ihr Caroline Fliedner schauten mit offenen Augen auf diese Situation und fühlten sich dadurch in ihrem christlichen Glauben herausgefordert. Sie rechneten damit, dass ihnen in den vernachlässigten Kindern, den allein gelassenen Kranken, den jungen Leuten im Gefängnis Gott selbst begegnen würde – so wie Jesus es im Gleichnis vom großen Weltgericht sagt: „Ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ja, was ihr getan habt einem unter diesen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Wichern gründete das Rauhe Haus in Hamburg, die Fliedners die Diakonissen-Anstalt in Kaiserswerth bei Düsseldorf. Solche Einrichtungen versuchten mit damals innovativen Mitteln auf die neue Situation zu antworten. Im Rauhen Haus wurden vor allem straffällig gewordene Jugendliche aufgenommen und auf ein Leben in Arbeit vorbereitet, in Kaiserswerth wurden Frauen aus allen Schichten zu Krankenpflegerinnen oder Erzieherinnen und Lehrerinnen ausgebildet. Das Prinzip bestand darin, den Menschen eine Gemeinschaft zu bieten, in der sie Halt und Orientierung fanden – nicht zuletzt dadurch, dass sie bestimmte Aufgaben zu erledigen hatten und selbst für andere tätig werden konnten. Von diesen Gemeinschaften aus, die ihr christlicher Glaube, ihre Rituale und das gemeinsame Tun zusammenhielt, gingen neue Impulse in die Städte und Dörfer – mit Gemeindeschwestern und Diakonen, die Bedürftigen halfen und Zusammenhalt stifteten.

Was ich hier als Bild der „klassischen“ Gemeindeschwester gezeichnet habe, erscheint den meisten Menschen heute nicht mehr zeitgemäß, angefangen vom Leben in einer christlichen Gemeinschaft mit der unklaren Trennung zwischen Arbeit und Freizeit bis hin zu der Tatsache, dass die Diakonissen unter ihnen nur ein Taschengeld bekamen. Dennoch gibt es einiges daran, das auch für uns heute eine Inspiration sein kann – oder was Sie auch aus Ihrer täglichen Arbeit kennen. Es ist ja keineswegs so, dass in den heutigen Städten und Gemeinden, in denen die Menschen im Durchschnitt deutlich wohlhabender sind als zu Zeiten von Wichern oder der Fliedners, in denen Müllabfuhr, fließendes Wasser und Zentralheizungen selbstverständlich sind – dass in unserer heutigen Umgebung nur eitel Sonnenschein herrschen würde. Auch heute sind viele Menschen haltlos aus den verschiedensten Gründen, viele aus der jungen Generation, darunter gerade die Alleinerziehenden, sind überfordert, neben der Arbeit noch Kinder und alte Eltern zu versorgen, das Miteinander zwischen Menschen verschiedener Kulturen stellt vor Herausforderungen, viele alte Menschen sind einsam. Hier werden Menschen gebraucht und es werden Plattformen gebraucht, um zu helfen, aber auch um Netzwerke herzustellen, damit Bürgerinnen und Bürger einander gegenseitig helfen können – Leihomas unterstützen Alleinerziehende bei der Kinderbetreuung und kommen so selbst aus ihrer Wohnung heraus, Ruheständler stellen sich als Mentoren zur Verfügung, damit junge Leute den Übergang von der Schule in den Beruf erfolgreich bewältigen, andere engagieren sich für internationale Gärten und tragen bei wechselseitigen Essenseinladungen zur Verständigung mit Migranten bei, und auch Nähstuben mit gespendeten Kleidern für Flüchtlingsfrauen haben schon wieder Konjunktur.

Vielleicht fungieren Sie selbst bei Ihrer Arbeit auch manchmal spontan so wie die Gemeindeschwester im Dorf meiner Kindheit, indem Sie Kontakte herstellen, einfach weil Sie nah an die Menschen herankommen, weil Sie Situationen sehen, Nachbarn und professionelle Hilfsangebote kennen und spontan eine Idee haben, wer weiterhelfen könnte. In jedem Fall aber leisten Sie mit Ihrer Arbeit einen wichtigen Beitrag dazu, dass Menschen in ihrer Wohnung, in ihrem angestammten Quartier bleiben können, selbständig leben und sich geborgen fühlen. Selbstverständlich ist das nicht. Denn immerhin 43 Prozent der Älteren leben in Einpersonenhaushalten. Und auch wenn die meisten Pflegebedürftigen noch immer von ihren Familien gepflegt werden – viele gehen in eine stationäre Einrichtung, weil sie ihren Alltag nicht mehr allein bewältigen können. Sie brauchen vielleicht kaum Pflege, sondern vor allem Unterstützung beim Erledigen der Hausarbeit und beim Einkaufen. Diese „Lösung“ ist extrem teuer, nicht nur für die Betroffenen selbst sondern auch für die Kommunen. Es gibt inzwischen zahlreiche Projekte, in denen mit innovativen Konzepten hilfreiche Angebote im Quartier geschaffen werden. Ich nenne hier nur das SONG-Projekt in Bielefeld oder auch Wohnquartier hoch 4. Voraussetzung ist, dass sich die Kommunen, die sozialen Dienste, die Wohnungswirtschaft, aber auch Verkehrsbetriebe und Einkaufszentren, Ärzte und Apotheken auf neue, ungewohnte Kooperationen einlassen. Und dass es Menschen gibt, die die Bereitschaft, die Fähigkeit und die Zeit mitbringen, sich in solchen integrativen Projekten zu engagieren. In der Regel ist dazu auch professionelle Unterstützung erforderlich – z.B. im Quartiersmanagement oder in einem Familienzentrum oder Mehrgenerationenhaus. Dabei geht es immer häufiger auch darum, überhaupt die Eckpfeiler des öffentlichen Raums und des nachbarschaftlichen Lebens aufrecht zu halten: eine Grundschule, einen Laden am Ort, die Praxis des Hausarztes, eine Kneipe oder ein Café, wo man sich ungezwungen treffen kann, regelmäßigen Nahverkehr. An immer mehr Orten entstehen gemeinsame Mittagstische, Pfarrgärten öffnen als Cafes und Bürgerbusse werden von Ehrenamtlichen betrieben, damit auch Ältere weiter mobil sein können. Durch das gemeinsame Engagement für die Nachbarschaft entstehen starke Bindungen zwischen den Beteiligten, oft über die Grenzen traditioneller kultureller oder ethnischer Milieus hinweg.

Ihre Homepage zeigt, dass auch Sie sich schon längst als Teil eines Netzwerks verstehen: da wird auf Kirchengemeinden und Krankenhaus, aber auch auf die Kommunen verwiesen. Ich will aber nicht verhehlen, dass ich davon träume, dass Diakoniestationen noch eine weiter gehende Funktion in einem integrativen Gesundheitsnetzwerk haben könnten. Wenn wir wollen, dass wir alle auch im Alter möglichst lange in ihrem Umfeld bleiben können, dann muss die selbstverständliche Zusammenarbeit zwischen ambulanter Pflege, Kurzzeitpflege bis hin zum Betreuten Wohnen im Quartier auch von den Fördertöpfen her leicht umsetzbar sein. Dann braucht es gute Pflegeberatungsangebote in jedem Kreis mit Pools von Haushaltshilfen und der Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen in der Nachbarschaft. Mehrgenerationenhäuser, aber auch integrative Versorgungsnetze zeigen, wohin die Reise gehen kann. Dabei ist klar: was hier zu tun ist, geht über die Möglichkeiten eines einzelnen Trägers hinaus und reicht weit hinein in die Gesundheits- und Sozialpolitik. Eine quartiersbezogene Finanzierungskomponente, eine regelhafte Planung sowie Angebote der Beratung stehen deshalb in Altenhilfe und Pflegeversicherung genauso an wie zuvor in der Jugendhilfe und der Behindertenhilfe. Vorschläge dafür gibt es längst.

 

Wo drückt der Schuh? Vor der Behandlung die Diagnose

Eine gute Behandlung setzt die richtige Diagnose voraus. Im Blick auf die Zukunft der Quartierspflege sehen wir seit langer Zeit, wohin es mit der ambulanten Pflege gehen müsste – und im Blick auf die Palliativpflege z.B. haben wir schon wichtige Schritte getan. Da gibt es nämlich integrative Teams aus Pflegenden und Ärzten, mit Sozialarbeitern, Seelsorgerinnen und Ehrenamtlichen Hospizhelfern – immer in Kontakt mit den Krankenhäusern. Woran liegt es, dass der Grundsatz „ambulant vor stationär“ so alt ist wie die Pflegeversicherung, dass aber die Umsetzung so schwer fällt? Wie kommt es, dass sich noch immer Menschen nach der alten Gemeindeschwester zurück sehnen? Es gibt ja sogar schon Gemeinden, die neue Modelle einer professionellen, nebenamtlichen diakonischen Mitarbeiterin, einer Gemeindeschwester neuer Form, entwickelt haben, um die Netzwerkarbeit wieder zu stärken. Dabei war es war es ja eigentlich ein großer Fortschritt, dass Schwester Helene und andere nicht mehr allein auf weiter Flur arbeiten mussten, sondern in ein Team eingebunden wurden, in dem sie Vertretung und fachlichen Austausch fanden. Damit einher ging ein Professionalisierungsschub, der die alte Rolle der generalistischen Gemeindeschwester zur Pflegekraft vorantrieb. Die Pflege kam an die Hochschulen, Pflegemanagement wurde entwickelt, und Pflege wurde ganz eindeutig Teil des Gesundheitssystems. Mit professionellen Standards, die auch die Finanzierung steuern. Auf der Rückseite traten diejenigen Aspekte der Gemeindeschwesternarbeit, die eher Sozialarbeit waren oder auch Beratungscharakter oder Seelsorgecharakter hatten, in den Hintergrund. Wenn wir vom Quartier reden, geht es also darum, diese Aspekte in neuen Netzwerken mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Berufsgruppen und Kontexten wieder zu gewinnen.

Pflege ist heute also Teil des Gesundheitssystems und das bedeutet: sie ist abhängig nicht nur von den fachlichen, sondern auch von den ökonomischen Standards, die dort gesetzt werden. Klar festgelegte Zeiten für die einzelnen Leistungen, oftmals lange Wege zwischen den verschiedenen Klientinnen und Klienten, Nachweise und Controlling gehören setzen die Mitarbeiterinnen genauso unter Druck wie die Fachkräfte in Krankenhäusern oder Altenhilfeeinrichtungen. Umso beeindruckender ist es, was Pflegekräfte leisten, sowohl in rein fachlicher Hinsicht als auch darüber hinaus im Sinne der Zuwendung und Menschlichkeit. Auch davon sprechen ja übrigens die Fotos, die ich auf Ihrer Website gesehen habe. Dass aber gerade für die Pflege wenig Geld ausgegeben wird, hat nicht nur mit einem durch demografischen Wandel und medizinischen Fortschritt überforderten Gesundheitssystem zu tun, sondern auch mit dem unguten Erbe, dass Pflege – ebenso wie die Erziehung – traditionell die Aufgabe von Frauen war und diese dafür nicht oder schlecht entlohnt wurden.

An der Wurzel der Kaiserswerther und Zehlendorfer Pflegegeschichte steht die Überzeugung dass Frauen zur Nächstenliebe geboren seien – und dass die Pflegeberufe in den Schwesterngemeinschaften eine Art Ersatz für die Arbeit der Ehefrau in der Familie sind. Nicht nur Theodor Flieder und die Mutterhausdiakonie, sondern auch Friedrich Zimmer, der Gründer des Diakonievereins Zehlendorf waren dieser Auffassung. Nicht zuletzt unter dem Druck der Frauenbewegung wurde im Laufe der Jahrzehnte berufliche Professionalität entwickelt – die Geschichte zeigt allerdings, dass Professionalität und Ökonomie immer wieder, nicht erst heute, in Spannung zueinander gerieten – zum Beispiel im Streit um den 8-Stunden-Tag, die Länge der Ausbildungszeiten, um fachlich überzeugende Curricula und die Refinanzierung gut ausgebildeter Schwestern in kommunalen Häusern.[1] Was die Schwesternschaften sich auf die Fahnen geschrieben hatten auf der einen Seite und was finanzierbar schien auf der anderen, war häufig schwer zu vereinbaren und wurde in der Regel auf dem Rücken dieser Frauen entschieden. Es war dabei leicht, an die Ideale der Schwestern und an ihre Motivation zu appellieren. Dennoch und vielleicht gerade deswegen steht es aus, sozialpolitisch darum zu kämpfen, dass Wertschätzung sich auch in den Entgelten zeigen muss. Pflege ist nach ihren Anfängen im Engagement der Gemeinschaften endgültig zum Beruf geworden – und muss deshalb vergleichbar sein mit der Finanzierung so manchen Handwerksberufs. Erst wenn es auch für Männer selbstverständlich ist, diesen Beruf zu ergreifen – und nicht nur um darin Karriere zu machen – wird dieses Geschichte in der Gegenwart angekommen sein.

Noch aber stehen wir im Spannungsfeld – und damit komme ich aber zu der zweiten Bedeutung meines Vortragstitels, von der ich eben gesprochen habe: Was ist es eigentlich, das die Energie für diese – ja neben allem auch körperlich sehr anstrengende – Arbeit liefert? Wie sieht es mit der Seele der Pflegenden aus?

 

Von Mensch zu Mensch – Resonanzerfahrungen in Zeiten der Beschleunigung

„Willst Du glücklich sein im Leben, trage bei zu aller Glück, denn die Freude, die wir geben, kehrt ins eigne Herz zurück“, schrieb man früher ins Poesiealbum. Diese Resonanzerfahrung ist es, die die Arbeit in sozialen Berufen für die Beschäftigten sinnvoll macht. Doch wenn die Zeit knapp wird und man einzelne Klientinnen und Klienten nur selten trifft, werden die „Resonanzflächen“ weniger und die Möglichkeiten, sich einzufühlen und Feedback im Alltag aufzunehmen, schwinden.[2] Zielvereinbarungen, Patientenfragebögen, Regelgespräche können zwar dafür sorgen, dass Feedback und damit Resonanz organisiert werden, sie bleiben aber letztlich Managementinstrumente, deren Sinnhaftigkeit immer neu erinnert und hergestellt werden muss. So beschweren sich viele Mitarbeiterinnen wie Nutzerinnen über den wachsenden bürokratischen Aufwand, der das Gruppen- und Institutionengedächtnis ersetzen muss und trotz immer neuer Veränderungsprozesse für geregelte Abläufe sorgen soll. Unter Zeit- und Arbeitsdruck, Funktionalisierung und Bürokratisierung droht die Erfahrung von Sinn zu erodieren. Wo Resonanz nicht mehr erlebt werden kann, wird die Arbeit im Sozial- und Gesundheitswesen nur noch als entfremdeter Job erfahren und verliert damit das Kostbarste, was diese Berufe ausmacht. Ich fürchte, auch wenn wir die Arbeit besser bezahlen – wo die Motivation verloren geht, werden wir auf Dauer die Menschen dafür nicht gewinnen.

Als Antwort auf die hohe Belastung im Gesundheits- und Sozialwesen haben die allermeisten Beschäftigten in den letzten Jahrzehnten gelernt, das professionelle Handeln von ihrer innersten Bewegung abzuspalten. Zu groß der Zeitdruck, zu vielfältig die Erwartungen der schnell wechselnden Patienten, Bewohner, Klienten, Kunden und Kollegen an verlässliche Beziehungen und empathisches Mitgehen. Da kann es hilfreich sein, sich nicht zu tief einzulassen, auf Distanz zu gehen, um sich vor Burnout zu schützen. „Professionalisierung heißt immer auch Vereisung“, schreibt Andreas Heller.[3] Oft genug ist es gerade diese Distanzierung, die mit dazu führt, dass die Arbeit als sinnentleert erlebt wird. Viele weichen dem Dilemma aus, indem sie sich auf den Weg machen: die Stelle wechseln, sich weiterbilden, spezialisieren oder sich selbständig machen. Die verhältnismäßig geringe Verweildauer in Pflegeberufen spricht eine klare Sprache. Andere reduzieren die Erwerbsarbeit, um Zeit für die Familie zu haben, oder suchen sich neben dem Job ein ehrenamtliches Standbein, einen Ort, an dem sie ihre Berufung leben können. Ihnen geht es nicht mehr nur um den Verdienst, sondern vor allem um ein gutes Leben. Es gilt, diese Bewegungen ernst zu nehmen, denn sie sind sicherlich auch Ausdruck unseres Wegs in die Tätigkeitsgesellschaft – nicht mehr nur die Erwerbsarbeit gibt Sinn. Doch es wäre fatal, würden wir die soziale Arbeit dieser Sinnentleerung und damit ihrer Abwertung überlassen.

„Führung macht den Unterschied“, ist der Titel einer Studie von Heike Lubatsch vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD über Arbeitsbedingungen in der Pflege im Krankenhaus. Knapp 2000 Fragebögen wurden in diakonischen Krankenhäusern in Niedersachsen versandt, etwa ein Drittel kam zurück und konnte ausgewertet werden. Hinzu kamen 500 Fragebögen in den neuen Bundesländern sowie als Vergleichsgröße knapp 300 in städtischen Häusern. Heike Lubatschs Studie fragte nach Arbeitszufriedenheit und Sinnerleben im Pflegeberuf. Angesichts hoher Burnoutgefährdung in der Pflege, erforschte sie auch Religiosität als eine Kraftquelle. Es wird niemanden überraschen, dass sich knapp die Hälfte der Befragten mit Entlohnung und Anerkennung ihrer Leistung unzufrieden zeigten, dass 80 Prozent über Zeitdruck klagten – während umgekehrt an erster Stelle der Zufriedenheit die vielfältigen Aufgaben und vor allem die sozialen Beziehungen zu den Kollegen standen. Für immerhin 69 Prozent der Befragten hatte das Team diese hohe Bedeutung. An erster Stelle das Wohl der Patientinnen und Patienten, aber gleich danach ein gutes Team, eine sinnstiftende Tradition und schließlich die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung – in dieser Reihenfolge – sind nach wie vor hohe Werte.

Die SI-Untersuchung zeigt: Wenn diakonischer Anspruch und gelebte Wirklichkeit in einem eklatanten Widerspruch stehen, wächst die Burnoutgefährdung, steigen die Fehltage[4]. Insofern kommt der Führung eine besondere Bedeutung zu, wenn es darum geht, Spannungsfelder transparent zu machen, Wertekonflikte auszuhalten und zu lebensdienlichen Entscheidungen zu kommen. Und deshalb gratuliere ich Ihnen, liebe Frau Dangschat, heute auch ganz persönlich zu Ihrem Team.

 

Angewiesenheit ernst nehmen – Engagement braucht Spiritualität

Als Kirche sollten wir uns aber auch klar machen, dass hinter der mangelnden Wertschätzung für die Pflege ganz offenbar ein Menschenbild steht, dass Angewiesenheit als Schwäche ablehnt und Autonomie überbewertet. Menschen, Beziehungen, Pläne sollen funktionieren; und soziale Arbeit wird wie Industriearbeit modularisiert und an ihren unmittelbaren Ergebnissen gemessen. Auch in der Gesundheitsbranche selbst die Ansprüche an Digitalisierung und Mobilität, werden Arbeitsverhältnisse flexibilisiert, Organisationen neu strukturiert. Heinz Bude spricht in diesem Zusammenhang bereits von einem neuen „Dienstleistungsproletariat“[5], zu dem er die Pflege – wie die Hauswirtschaftsberufe, Caterer oder Hotelangestellte zählt. Menschen, die andere begleiten und ihnen Stabilität geben wollen, erleben selbst in hohem Maße Verunsicherung und fragen selbst nach den Werten, die uns und unsere Gesellschaft tragen. Sie fragen nach der Seele unseres sozialen Zusammenlebens, nach dem, was trägt und heilt, nach Respekt und Motivation.

Gesundheit lässt sich nicht produzieren oder einkaufen wie ein Medikament, eine Therapie hängt von der Bereitschaft der Betroffenen ab, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen – und eine gute therapeutische Beziehung kann helfen, für diese Auseinandersetzung bereit zu werden. Zielerreichung und erfolgreiche Arbeit basieren auf einer gelungenen Kooperation. Soziales Handeln ist Beziehungshandeln. Es geht darum, eine (Arbeits-)Beziehung zwischen Hilfebedürftigen und Helfern herzustellen Dazu ist mehr nötig als Fachwissen und gutes Management, es geht um Haltung: die Bereitschaft zur Empathie, eine gute Wahrnehmung des Gegenübers und auch die Gelassenheit, die weiß, dass wir bei aller Anstrengung nicht alles machen können. Engagement also und eine spirituelle Verankerung sind hilfreich für die Arbeit. Diese Fähigkeiten basieren auf einer guten Reflexion des eigenen Verhaltens, der eigenen Gefühle, der eigenen Lebenssituation. Es sind ja oft eigene oder familiäre Erfahrungen die Menschen dazu bringen, einen sozialen Beruf zu ergreifen. Die Reflexion der eigenen Geschichte, eine achtsame Haltung und die Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen, sind kein at on, sondern über alles Expertenwissen und Handwerk hinaus Teil der Professionalität in sozialen und therapeutischen Berufen eben auch in der Pflege.

Oft ist es dabei nicht einmal der messbare Erfolg, der die Arbeit so befriedigend macht. Viele Beschäftigte in Hospizen berichten von großer Erfüllung durch ihre Arbeit, die doch immer im Sterben des Patienten endet. Es ist befriedigend, genau da, wo die Zeitlichkeit und Endlichkeit unseres Lebens besonders spürbar wird, Zeit zu schenken und gemeinsam etwas von der Schönheit und der Tiefe des Lebens zu erfahren. Die Sorge für die Schwachen schützt die Starken selbst“, schreibt Romano Guardini. „Der Mensch, der es ablehnt, dem sinkenden Leben gut zu sein, versäumt eine wichtige Chance, zu verstehen, was Leben überhaupt ist“.

Wer den Beruf der Pflege wählt, dem geht es um mehr als um Erwerbstätigkeit. Es geht um das Miteinander und in einem tieferen Sinne um den Sinn unseres Lebens, um das, was Leben überhaupt ist. Auf diesem Weg ist Unterstützung wichtig. Durch eine gute Führung, durch Supervision oder Coaching, vielleicht auch durch eine geistliche Begleitung. Dabei geht es nicht um Instrumente und Werkzeuge wie das Gebet am Krankenbett, das aber manchmal doch auch gefragt ist. Es geht darum, wie wir mit der spirituellen Dimension in der Sorgearbeit umgehen – und wie wir unsere eigene Spiritualität entwickeln. Die alte Gemeindeschwester, von der am Anfang die Rede war, hatte Rückhalt in der Gemeinde, wenn es um diese Fragen ging. Heute ist Pflege oft interkulturell – aber gerade dabei wird deutlich, wie groß die Rolle der Religion in diesem Zusammenhang ist. Ich wünsche mir und ich wünsche Ihnen deshalb nicht nur eine gute Vernetzung im Gesundheitssystem, sondern auch offene und unterstützende Gemeinden.

Alles Gute für die nächsten 10 Jahre!

 

[1] So der Streit mit der Kommune in Magdeburg, den Ulrike Gaida schildert.
[2] Vgl. die Überlegungen von Hartmut Rosa zu „Beschleunigung. Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Berlin 2005 – und seitdem vielfältige Aufsätze und Texte zu Resonanz und Beschleunigung vom gleichen Autor.
[3] Andreas Heller, Reimer Gronemeyer
In Ruhe sterben Was wir uns wünschen und was die moderne Medizin nicht leisten kann, München 2014
[4] „Führung macht den Unterschied“, Heike Lubatsch, Sozialwissenschaftliches Institut der EKD, Hannover 2012
[5] Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, Berlin 2015