Dankbarkeit als Lebensstil

„Diese Karte ist allen gewidmet, die es verdient haben, besonders bedankt zu werden. Und alle, die ein danke viel zu selten hören, obwohl es sie motivieren würde… Danke, das können alle hören und sehen, ist ein Lebenselixier. Wer danken kann, ist glücklich, wissen Wissenschaftler. Und Ehrenamtliche. Und Mütter und Väter. Alte und Kranke. Bürgermeister und Bundeskanzler. Rollstuhlfahrer und Redenschreiber. Leidensgenossen und Liebhaber“, steht auf einer der 365 „Wertschätzungskarten“ des Diakonieklinikums in Kassel. Für jeden Tag eine. Für jeden Mitarbeiter, für jede Mitarbeiterin. Für Patientinnen und Patienten. Denn danken, das macht der kurze Text deutlich, ist keine Einbahnstraße – es tut allen gut und alle sind darauf angewiesen. Hier wollten Verantwortliche aus Seelsorge und Klinikleitung eine „Kette des Dankens“ in Gang setzen, indem sie mit den Wertschätzungskarten ein kleines Dankeschön an die Mitarbeitenden weitergeben. „Danke – ja, genau Sie – Sie meine ich!“ heißt es im letzten Satz.

Eine schöne Idee. Denn viel zu oft höre oder lese ich etwas anderes: „Das dankt Dir am Ende doch keiner“. Menschen sagen das, die sich lange und oft bis an die Grenze für andere engagiert haben und sich jetzt ausgebrannt fühlen. Die sich fragen, ob das alles gelohnt hat. Wer das Gefühl hat, die eigene Mühe sei letztlich erfolglos gewesen, rät dann oft auch anderen, sich nicht zu sehr zu verausgaben. „Das dankt Dir am Ende doch keiner“. Offen gestanden, habe ich mich bei diesem Satz oft gefragt, worin sich der Dank „am Ende“ ausdrücken soll? Natürlich kenne ich das Gefühl der Erfolglosigkeit, auch den höflichen Dank, der freundlich bleibt, aber nicht zu Herzen geht. Ich weiß, wie es ist, wenn Menschen, für die man sich eingesetzt hat, es „einem nicht danken“ – aber ich kenne doch auch das andere: die Dankbarkeit, die mich überflutet, wenn ich erlebe, dass meine Initiativen „weiter leben“, dass und wie frühere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sich entwickeln, wie Konfirmandinnen und Konfirmanden sich nach vielen Jahren wieder melden. Und dabei stelle ich mir das Vierfache Ackerfeld aus dem Gleichnis Jesu vor Augen: Welche Saat aufgeht, welche eingeht, das wissen wir nicht vorher und es liegt nicht nur an uns. „Nicht alles steht uns vor Augen, aber manche Früchte dürfen wir noch erkennen“, wie es in einer Gottesdienstordnung zum Abschied heißt. Dankbarkeit entsteht im Rückblick – wir erkennen sie als einen Strom des Gedeihens, der durch uns hindurch zu anderen führt – und von weither zu uns kommt. Kein „do, ut des“, kein Geschäft unter der Melodie „Wie Du mir, so ich Dir“. Jedes Schielen auf Erfolg macht deshalb nur unzufrieden und lässt uns leer zurück.

So betrachtet, fängt Dankbarkeit nicht mit dem an, was ich gebe, sondern mit dem, was ich bekomme. Die offenen Hände sind ein Symbol für Dankbarkeit. Dankbarkeitstagebücher können uns darin einüben, wertzuschätzen, was wir von anderen bekommen haben und auch in Niederlagen und auch in Krisenzeiten auf das zu sehen, was gut war. Übrigens gibt es auch auf der „Wertschätzungskarte“, die ich oben zitiert habe, einen Satz, der dazu ermutigt: „Danken Sie denen, die Sie durch Prüfungen schicken, von denen lernen Sie am meisten.“ „Dankbarkeit verhindert, dass ich alles Gute, das mir widerfährt, als Selbstverständlichkeit annehme; etwas, auf das ich schließlich auch Anspruch habe“, schreibt Sabine Asgodom[1] – sie sieht in der Dankbarkeit einen der zwölf Schlüssel zur Gelassenheit, der auch helfen kann, den Stress zu stoppen. Für sie ist das Symbol für Dankbarkeit übrigens ein Schale – eine Schale, in der wir das Gute einsammeln, das wir unverdient empfangen haben – gute und schwierige Erfahrungen, Lehrer und gute Begleiter auch in Krisensituationen, Menschen an unserer Seite und vielleicht auch nur die Sonne auf unserer Haut und das Glas Wasser, das unsere Lebensgeister weckt. Wer auch die kleinen Glücksmomente den Tag über bewusst einsammelt wie die Glasmurmeln, die manche von der linken in die rechte Hosentasche wandern lassen, der wird am Ende des Tages wissen, dass seine Schale gefüllt ist.

Und er wird allen Grund finden, die eigene Dankbarkeit auch zu zeigen – weil es Freude macht, etwas von diesem Glück weiter zu geben. In seinem Buch „Wo die Seele auftankt“[2] schreibt Marco von Münchhausen, es belaste einfach, einen versäumten Dank mit sich herum zu tragen, und auch Sabine Asgodom sieht den Gewinn der Dankbarkeit darin, dass sie dem Leben Leichtigkeit schenkt. Wir sollten unseren Dank also nicht aufschieben und mit uns herumschleppen, bis er schal wird – sondern jeden Tag drei Menschen den eigenen Dank zeigen, mit einer Karte, einem Telefonanruf, einem Blumenstrauß oder einer kleinen Geste. Der Nachbarin, dem Friseur, dem alten Lehrer – Menschen, die uns früher oder heute in irgendeiner Weise unterstützen. Und dabei die eigene Familie nicht vergessen. „Danken Sie so viel Sie können, aber erwarten Sie möglichst keinen Dank von anderen. Wenn Dank eingefordert wird, erzeugt dies bei anderen eher Schuld – als Dankbarkeitsgefühle – und das bekommt der Seele gar nicht.“ [3]

„Mein Lohn ist, dass ich darf“, heißt es in dem alten Diakonissenspruch von Hermann Löhe – ich entdeckte ihn neulich in Gallneukirchen wieder, im Fenster der früheren Mutterhauskapelle. „Ich diene weder um Lohn noch um Dank, sondern aus Dankbarkeit und Liebe“, heißt es darin. Engagement aus Dankbarkeit, nicht um des Dankes willen. „Und wenn ich dabei alt werde? So wird mein Herz grünen wie ein Palmbaum und der Herr wird mich sättigen mit Gnade und Erbarmen. Ich gehe mit Frieden und sorge nichts.“ Ein bisschen haben sich die letzten Diakonissengenerationen und auch die Vorsteher und Oberinnen der Mutterhäuser des alten „Gründungsspruchs“ geschämt; war es nicht ziemlich viel verlangt, so wenig um das eigene Leben zu sorgen, dass man schreiben und meditieren kann: „Komme ich um, so komme ich um?“ Ja der Spruch konnte – einer jungen Schwester täglich als Ideal der Selbstlosigkeit vor Augen gestellt – erdrückend schwer werden. Und er stand in Neuendettelsau, in Kaiserswerth und in vielen anderen Mutterhäusern auf den Nachttischen der Probeschwestern genauso wie in den Schul- und Liederbüchern. In der so genannten Taschengeld-Diakonie der Diakonissengemeinschaften, in der der ein Tariflohn für Krankenschwestern und Kindergärtnerinnen noch gar nicht zur Debatte stand, konnte dieses „Mein Lohn ist, dass ich darf“ durchaus hart und zynisch klingen – vor allem dann, wenn er einem von anderen vor Augen gestellt wurde.

Und bis heute werden Erzieherinnen und Pflegende in ihren berechtigten Kämpfen um Wertschätzung und Anerkennung immer wieder von Eltern, Kranken, Arbeitgebern daran erinnert werden, dass sie doch auch mit einem geringen Einkommen zufrieden sein können, weil sie einen Beruf haben, der ihrer innersten Motivation entspricht und sie mit anderen Menschen verbindet? Es ist berechtigt, sich für diese Zumutung zu schämen. Denn ein „Dankeschön“ kann den gerechten Lohn für gute Arbeit nicht ersetzen – auch nicht in einem Dienstleistungsberuf. Seit mit der Gründung der freien Schwesternschaften klar wurde, dass auch ein Beruf in der Wohlfahrtspflege eine Profession ist und nicht nur unentgeltliche, barmherzige Nächstenliebe, weiß das eigentlich jeder. Geld und Liebe dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Weil das zu oft geschah, ist der alte Spruch nun verschüttet unter einer Geschichte von Missbrauch und Missverständnissen. Er ist beschädigt durch den moralischen Zeigefinger und durch falsche Gesetzlichkeit. Da ist nichts mehr von der Leichtigkeit der Dankbarkeit – alles scheint schwer, beschämend schwer. Als könne man sich Dankbarkeit ernsthaft verdienen.

Man muss also tief graben, um unter der Asche der Tradition das Feuer wieder zu entdecken, das für einige Generationen das eigene Leben erhellt hat – und das vieler anderer mit. Tatsächlich liegt nämlich eine tiefe Wahrheit in dem alten Spruch: Wer dankbar dafür ist, dass andere ihm zur Seite standen, möchte etwas davon zurückgeben. Wer begriffen hat, was im Leben wirklich trägt, möchte das anderen weitergeben. Heute wird das vor allem im zivilgesellschaftlichen Engagement spürbar. Eigene Erfahrungen weiter zu geben, eigene Kompetenzen einzusetzen, gehört zu den wichtigsten Motiven von ehrenamtlich Engagierten. Ich denke an die Kriegskinder und Flüchtlingskinder aus Schlesien und Ostpreußen, die heute den Flüchtlingsfamilien aus Syrien helfen. Oder an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Hospizdienst, die beim Sterben ihrer Angehörigen gespürt haben, wie wichtig eine solche Begleitung ist. Und an die älteren Mentorinnen und Mentoren, die selbst beruflich mit allen Wasser gewaschen sind und nun jungen Menschen auf den Weg ins Berufsleben helfen – sie alle sind einfach glücklich und dankbar, andere zu begleiten. „Nicht um Lohn oder um Dank, sondern aus Dankbarkeit und Liebe.“ Das genügt. Und es macht glücklich.

Dankbarkeit ist ein Strom, der durch uns hindurchfließt wie die Lebenskraft durch einen Baum. „Und wenn ich dabei alt werde, so wird mein Herz grünen wie ein Palmbaum…“. Der Diakonissenspruch enthält tatsächlich ein großes Glücksversprechen. Nicht, dass uns am Ende irgendjemand etwas dankt, sondern dass wir lebendig bleiben, wenn wir Erfahrungen weiter geben. Dass wir Frieden machen mit dem Leben und schließlich gut abschließen können. Dankbarkeit ist eben gerade keine Morallektion für junge Schwestern und kein erhobener Zeigefinger von Eltern ihren Kindern gegenüber – Dankbarkeit ist die Haltung eines erwachsenen Menschen, der auf ein Stück Leben zurück blicken kann und nun zu schätzen weiß, was ihn hat wachsen lassen, was er ist und sein darf. Der das Leben trotz allem und in allem zu schätzen weiß. Was gäbe es Wichtigeres und Schöneres, als das zu leben und anderen weiter zu geben?

Der Heidelberger Katechismus von 1563, der mit seinen 129 Fragen nicht für Kinder, sondern für Erwachsene geschrieben ist, versteht Dankbarkeit als das Kennzeichen eines christlichen Lebensstils. „Von der Dankbarkeit“ heißt der dritte Teil, in dem es darum geht, wie wir trotz mancher Krisen, Enttäuschungen und Selbstzweifel ein zuversichtliches Leben führen können. Vielleicht so, wie Hanns Dieter Hüsch es einmal beschrieben hat: „Ich bin vergnügt, erlöst, befreit. Gott nahm in seine Hände meine Zeit, mein Fühlen, Denken, Hören, Sagen, mein Triumphieren und Verzagen, das Elend und die Zärtlichkeit.“ „Von des Menschen Elend“ heißt übrigens der erste Teil dieses reformierten Lehrbuchs und „Von des Menschen Erlösung“ der zweite. Und was für eine Erlösung ist das, wenn wir spüren, dass unser Elend von Gottes Zärtlichkeit weggeliebt wird; ja, dass Gott mit uns in allem Leid solidarisch ist und Sympathie zu uns hat. In dieser Erfahrung wurzelt die Dankbarkeit, die das eigene Glück nicht selbstverständlich nimmt und sich deshalb auch in andere einfühlen, empathisch sein kann. So also, wenn wir Dankbarkeit leben, können wir „unseres Glaubens in seinen Früchten gewiss werden“, wie es in der Katechismusantwort zu Frage 86 heißt. Nicht, dass mir jemand dankt, ist das verheißene Glück, sondern dass ich auch in meiner Beziehung zu anderen erleben kann, wie der Glaube trägt.

Wer aus einer Lebenskrise gestärkt hervor gegangen ist, der kennt das Gefühl, das Hanns Dieter Hüsch beschrieben hat – dieses Gefühl von tiefer, existenzieller und dabei ganz elementarer Dankbarkeit. Mir ging es so nach einer Krankheit im letzten Jahr: das Glück, gesund zu sein und leben zu dürfen, war so stark, dass ich eine ganz neue Freude am scheinbar Selbstverständlichen spürte. Duschen zu können und zu frühstücken, rausgehen, reisen und arbeiten zu können – nichts davon war mehr selbstverständlich. Gute Ärzte und Pflegende, Kolleginnen und Kollegen, die Vertretungsdienste übernahmen, die Familie, die da war – sie alle hatten mich spüren lassen, dass das Leben trägt. Wer würde nach einer solchen Erfahrung nicht versuchen, alles oder doch viel dafür zu tun und manches zu lassen, damit das so bleibt? Auf die eigenen Grenzen achten, den eigenen Lebensstil ändern? Und wem passiert es nicht, dass er selbst diese Erfahrung wieder vergisst? Das ist der Grund, warum der Heidelberger Katechismus diesem dritten Teil „Von der Dankbarkeit“ auch die 10 Gebote zuordnet. Sie sind ja nichts anderes als Hilfen zu einem bewussten und dankbaren Leben. Beten und das Tun des Gerechten – das sind Konsequenzen der Erfahrung, erlöst zu sein. Nicht umgekehrt also: Niemand erwirbt sich Dankbarkeit, indem er gute Werke tut.

Wo das aber geschieht, da merken wir es selbst oft gar nicht – und das ist vielleicht gut so, eben weil das Schielen darauf nicht glücklich macht. Wohl aber erkennen vielleicht andere erstaunt, wie der Strom fließt: Mir ging es so, als ich in der Kaiserswerther Diakonie arbeitete. Als wir dort vor 12 Jahren eine Fundraising-Agentur beauftragten, zu analysieren, woher die Kleinspenden kamen – immer mit der Frage im Hinterkopf, ob man aus Kleinspendern auch Großspendern machen könnte, da stellte sich zu unserer Überraschung heraus, dass die Karte der Kleinspender mit einer historischen Karte der alten Schwesternstationen in Deutschland übereinstimmte. Die vielen kleinen Gaben für die Kaiserswerther Diakonie kamen noch nach Jahrzehnten aus Dankbarkeit für die hingebungsvolle Arbeit der Schwestern. Sie flossen selbst da noch, wo es seit langem keine Schwesternstationen mehr gab. Niemand hatte das geplant – auch die Schwestern nicht. Aber ihre Arbeit war nicht vergessen. Ihr Engagement war nicht im Nirgendwo verhallt; es hatte Resonanz bis zum heutigen Tag. Allen, die diese Resonanz zu selten sehen und wahrnehmen, allen, die über ihrer Arbeit resignieren und das Gefühl haben, der eigene Einsatz sei umsonst, rate ich vor allem, sich Zeit zu nehmen – Zeit, die leere Schale immer wieder vor sich hinzustellen, damit sie sich füllt. Und allen, die Verantwortung für die soziale Arbeit tragen, in Vorständen, Personalleitungen und Politik, rate ich neben der Sorge um den gerechten Lohn vor allem das eine: Zeit zu geben, damit Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht nur Module bedienen, sondern sich wirklich in andere einfühlen und solidarisch werden können, damit der Strom der Dankbarkeit fließen kann.

 

 

 

[1] Sabine Asgodom, 12 Schlüssel zur Gelassenheit – So stoppen sie den Stress, München, 2. Auflage 2008

[2] Marco von Münchhausen, Wo die Seele auftankt, Frankfurt 2004

[3] aaO S. 172