Wesentlich werden

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Vorstellungsrunde während einer Coaching-Fortbildung. Vor uns liegt das Bild einer Lebenslandschaft mit Sonnengipfeln, Liegewiesen, schmalen Graten und Jammertälern. Die Teilnehmenden sollen sich statt mit Rolle und Funktion mit ihren Erfolgen und ihrem Scheitern sowie mit ihren Zielen für die nächste Zeit vorstellen. Das verlangt, die konventionellen Selbstbeschreibungen zu überwinden und sich zu den eigenen Grenzen zu bekennen. Die Auseinandersetzung mit Verlusten und mit Scheitern macht produktiv. Niemand muss die eigene Vergangenheit glätten, entscheidend ist, die Zukunft zu gewinnen, die eigenen Energiequellen freizulegen. Die meisten in der Runde sind zwischen Mitte dreißig und Mitte vierzig und gehen längst ganz selbstverständlich mit dieser Einsicht um. Als Führungskräfte, Selbständige oder Kreative sind sie jedoch in besonderer Weise dem Gesetz des Gelingens unterworfen. Ich spüre viel Selbstüberforderung, höre von Zerreißproben in Familien. Keine Frage: Hier müssen auch Träume begraben werden.

„Wenn Sie einmal am Ende Ihres Lebens stehen – was möchten Sie dann erreicht haben? Haben Sie einen Wunsch, den Sie sich noch erfüllen müssen?“ Einen Traum verwirklichen zu können, sich über eigene Ziele vielleicht erst bewusst zu werden und sie zu verfolgen, ganz unabhängig von den Zielsetzungen einer Organisation, eines Arbeitgebers – das gehört zu den Chancen des Älterwerdens. Ich kann in aller Freiheit definieren, was ich will und was nicht, mich unabhängig machen von ungesundem Druck, von Erwartungen, die nicht lebbar sind. Aber es gibt nun auch keine Ausreden mehr: Es liegt an mir, die neue Freiheit zu nutzen und die Zeit, die mir bleibt, bewusst zu gestalten. „Wesentlich werden“ nennt Petra Schuseil das.

Der französische Philosoph Roland Barthes entschied sich, einen Roman zu schreiben, als seine Mutter gestorben war. Ihm war klar: Wenn ich mich an so ein ungewohntes und großes Projekt wage, dann muss ich mein Leben so einrichten, dass ich diesen Traum verwirklichen kann. Dann muss ich ein neues Leben beginnen. Dafür gibt es seiner Auffassung nach ein paar grundlegende Voraussetzungen: Notwendig ist vor allem ein bewusster Entschluss. Und man muss den Alltagstrott verlassen, die eigenen Routinen überprüfen. Es geht darum, dem eigenen Leben einen neuen, grundlegenden Inhalt zu geben. Während ich mit Hochdruck versuche, mein Buchprojekt zum Thema „Übergänge“ endlich abzuschließen, spüre ich, wie Recht er hat.
Margarethe von Trottas Film über Hildegard von Bingen erzählt, wie die bekannte Klostergründerin gegen Ende ihres Lebens eine solche Entscheidung trifft. Sie verlässt das Kloster, in dessen Aufbau sie ihr ganzes Leben investiert hat, verlässt den Konvent und ihre Rolle als Äbtissin und bricht zu Pferd auf eine Predigt- und Seelsorgereise auf. Ohne ihren Tross, fast allein. „Wir sind hier, um das, was uns gegeben wurde, vollständig und freiwillig zurückzugeben“, sagt der Franziskanerpater Richard Rohr, der ein Buch über die spirituelle Reise der zweiten Lebenshälfte geschrieben hat. In der ersten Lebenshälfte, schreibt er unter Bezug auf Carl Gustav Jung, gehe es darum, ein Heim und eine Familie aufzubauen, ein sicheres Fundament für das Leben. Dann aber sei die Herausforderung, das alles wie Hildegard loszulassen und noch einmal frei zu werden.

„Haben Sie einen Wunsch, den Sie sich noch erfüllen müssen?“, hat Iris Radisch verschiedene Schriftsteller gefragt. „Ich möchte immer nur das nächste tun, das nächste von allem, was ich noch nicht getan habe. Ich möchte, dass es eine Fortsetzung gibt“, sagt Andrej Bitow. „Aber im Grunde denke ich, dem Wesentlichen kann man nichts hinzufügen. Das Wesentliche kann man nicht erreichen. Man kann darum herumschreiben, schöne Verse machen, guten Wein trinken, einen guten Stuhl bauen. Mehr schafft man nicht.“ Am Ende müssen wir wohl alle mit dem leben, was unvollendet und brüchig bleibt. An unseren Arbeitsplätzen und auch ganz persönlich. Das zu wissen, kann den Druck rausnehmen. Aber die Sehnsucht nach dem Wesentlichen bleibt und lässt vieles vorher Undenkbare möglich werden. Träume sind eine starke Energiequelle.